Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
dass er von einem so ungewöhnlichen Geschöpf angesprochen wurde, hatte Kalt den Schutzschild völlig vergessen. Erleichtert gab er ihn auf und es fühlte sich an, als hätte er endlich eine schwere Last von seinem Rücken abgeladen. Widerstrebend setzte er auch die Maske ab und fühlte sich sehr verwundbar ohne sie. Jahrelang hatte es nur zwei Menschen gegeben, die sein nacktes Gesicht sehen durften: Izobia und Grimm. Ein Frösteln durchlief ihn, als ihm die kalte Nachtluft über die Haut strich. Verspätet entsann er sich seiner guten Erziehung und verbeugte sich vor seiner leuchtenden Gesellschafterin. »Ich heiße Kalt und war Grimms Lehrling – bis heute.«
Sie nickte, und der feurige Kamm wippte auf ihn zu. »Ich bin Vaure, eine Phönix und Horcherin, und … Augenblick mal! Was soll das heißen, du warst sein Lehrling?«
Einmal mehr spürte er, wie sich schwere Trauer auf ihn herabsenkte. »Grimm ist tot. Er wurde heute Abend von einem Gefährten dieses Jungen umgebracht. Er muss den Verstand verloren haben, glaube ich, während des Angriffs dieser … Wie hast du sie genannt?«
»Ak’Zahar«, antwortete Vaure geistesabwesend. »Kalt, das sind schlimme Neuigkeiten! Es ist lange her, dass Grimm in Gendival gewesen ist, aber ich erinnere mich an ihn, als er noch so jung war wie du. Er trug damals einen anderen Namen, aber er war im Schattenbund hoch angesehen und beliebt.«
»Auch ich habe ihn geliebt.« Kalt stellte fest, dass man selbst im Geiste schluchzen konnte. »Und ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll. Mit seinem letzten Atemzug hat er mir auferlegt, hierher zu kommen und diesen Jungen mitzubringen, sowie einige fremdartige Gegenstände, die er unter der Stadt gefunden hat, nachdem sie aus Tiarond entkommen waren.«
»Und nun bist du hier, wie er verlangt hat, und das spricht für dich. Aber ich fürchte, du hast mehr als das Verlangte mitgebracht.« Plötzlich war Vaures Stimme wieder streng. »Wie kannst du es wagen, einen dieser stinkenden Ak’Zahar einzuschleppen und damit unser Land in Gefahr zu bringen?«
Verflucht! Ich wusste, dass es deswegen Ärger gibt.
Aber Kalt war davon überzeugt, dass er richtig gehandelt hatte. »Durch einen glücklichen Zufall konnte ich das Biest lebend fangen. Das geschieht sicherlich nicht allzu oft, darum dachte ich, der Schattenbund würde die Gelegenheit schätzen, ein lebendiges Exemplar zu untersuchen. Ich dachte, wir könnten jede neue Erkenntnis gebrauchen, wenn wir diese Bedrohung je wieder loswerden wollen.«
»Wir? Welche Vermessenheit! Aber wir werden sehen, was der Archimandrit Amaurn zu deiner Verwegenheit zu sagen hat. Er mag ganz andere Vorstellungen von der Zukunft eines Mannes haben, der die Ak’Zahar auf Gendival losgelassen hat.«
Einen Augenblick lang hätte Kalt beinahe aufgegeben und vorgeschlagen, sie sollten das Geschöpf an Ort und Stelle töten und die Sache beenden – aber die Eingebungen seines sturen Gewissens wollten es nicht gestatten. Er wusste einfach, dass er Recht hatte. Diese Geschöpfe sollten genau untersucht werden.
Ich habe ohnehin schon Ärger, weil ich die Scheusale durch die Schleierwand gelassen habe. Ein bisschen mehr macht jetzt auch nicht viel aus.
Aber könnte es ihm denn gelingen – würde er es überhaupt wagen – den Archimandriten von seiner Anschauung zu überzeugen? Kalt hoffte es. Anderenfalls würde sein Aufenthalt beim Schattenbund ziemlich kurz werden.
In der Nebenwelt, die Thirishris Gefängnis war, gab es kein Gefühl für Zeit. Zwar hatte Helverien vom Zaubervolk ein wunderschönes Trugbild mit Himmel und Meer geschaffen, es blieb aber immer gleich, ohne die kleinste Veränderung in Farbe oder Helligkeit, die das Verstreichen eines gewöhnlichen Tages kennzeichnen. Das hätte ermüdend sein sollen, aber der Windgeist wurde dessen nicht überdrüssig, und obwohl sie nicht aß wie andere Geschöpfe, sondern Kraft aus ihrer Umgebung aufnahm, brauchte sie hier nicht einmal das zu tun. Es war gut, dass sie Gesellschaft hatte, sonst hätte sie über kurz oder lang den Verstand verloren. Innerlich kochte sie vor Wut und Enttäuschung, weil sie an diesem elenden Ort gefangen saß und mit niemandem draußen sprechen konnte, wo doch die Welt eine solche Unglückszeit durchmachte – oder zumindest durchgemacht hatte, als man sie gefangen setzte. Es gab kein Mittel, um herauszufinden, wie viel Zeit in der Außenwelt vergangen war, seit sie hier schmachtete. Waren es nur Augenblicke?
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