Der Schattengaenger
hatte er gedacht, man sollte doch meinen, Raubvögel würden den Schutz der Dunkelheit bevorzugen.
»Hau ab!«, hatte er gezischt. Und da war ihm eingefallen, dass in Imke Thalheims Büchern immer wieder von einem Bussard die Rede war. Er hatte versucht, sich zu erinnern. Aber ja, der Vogel hatte in jedem der Romane so etwas wie eine prophetische Bedeutung.
Ein Orakel sozusagen.
In der Serie Flamme und Fegefeuer war er das Alter Ego der Hauptfigur, spiegelte ihre Gedanken und Gefühle und bestimmte die Richtung ihrer Gedanken.
Erst da hatte Manuel den Zusammenhang hergestellt. Es gab den Vogel wirklich. Imke Thalheim hatte ihn nicht erfunden. Und wenn sie ihm eine so bedeutsame Rolle in ihren Krimis zuwies …
»Sie kann ohne dich nicht sein«, hatte er überrascht gemurmelt und nach oben gestarrt. »Ohne dich fällt ihre ganze feine Überlegenheit in sich zusammen.«
Aus schmalen Augen hatte er den Bussard gemustert, der so reglos dasaß, dass man hätte glauben können, er sei gar nicht echt und nur zum Spaß dort oben hingesetzt worden.
Vielleicht war er ja krank gewesen, hatte Manuel gedacht, nachdem er den Vogel mit einem einzigen Steinwurf vom Dach geholt hatte. Oder er stellte sich bloß tot. Vorsichtshalber hatte er mit dem Messer nachgeholfen.
»Das - wird - ihr - eine - Lehre - sein!«
Er hatte gespürt, wie ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren, und er hatte sie mit einer zornigen Bewegung weggewischt. Wie konnte sie ihm das antun? Ihn dazu zwingen, ein wehrloses Tier zu töten, nur um sie zur Rückkehr zu bewegen?
Unaufhaltsam waren jetzt die Tränen geflossen und in dem Federkleid des toten Bussards versickert.
Manuel schüttelte die Erinnerung ab. Er versuchte, sich auf den Krimi zu konzentrieren, doch er konnte keine einzige Zeile lesen, solange er so aufgebracht war. Er pfefferte das Buch an die Wand und beobachtete, wie es zu Boden fiel und aufgeklappt, die Seiten nach unten, liegen blieb.
Auch der Bussard war gefallen wie ein Stein. Beinah geräuschlos.
Manuel verpasste dem Schreibtisch einen Tritt und sah zu, wie der Tee überschwappte. Er hatte Lust, sämtliche Aktenordner aus den Regalen zu fegen und jedes einzelne Möbelstück kurz und klein zu schlagen.
Wenn ich die Schlampe in die Finger kriege, dann gnade ihr Gott!
In diesem Augenblick hörte er einen Wagen auf den Hof fahren. Er beugte sich vor und schaute hinaus und das Herz blieb ihm stehen. Es war ihr Lebensgefährte, der da aus dem klapprigen Renault stieg. Und er hatte die Mädchen bei sich.
Schnell wischte Manuel mit einem von Ellens Kosmetiktüchern über den Schreibtisch. Er hob das Buch vom Boden auf und verbarg es unter einem Stapel von Papieren.
Dann holte er tief Luft und ging hinaus.
Ein toller Typ. Merle sah ihn im gleißenden Sonnenlicht über den Hof kommen und fragte sich, was, um alles in der Welt, sie immer noch bei Claudio hielt, der sie schamlos belog und ausnutzte und der nicht einen Funken Respekt vor ihr hatte.
Ganz einfach. Claudio war Claudio.
Etwas an ihm ging ihr unter die Haut, jedes Mal wenn sie ihm gegenüberstand. Hormone, sexuelle Duftstoffe, Hexerei. Ihre Liebe spielte sich auf einer ausschließlich instinktiven Ebene ab. Sie konnten keine halbe Stunde miteinander reden, ohne zu streiten, hatten so gut wie keine gemeinsamen Interessen und waren charakterlich Meilen voneinander entfernt.
Merle verstand es ja selber nicht.
Der junge Mann, der da auf sie zukam, war groß und schlank, und seine Bewegungen waren geschmeidig. Seine Haut war gebräunt, obwohl der beginnende Frühling die Gegend noch nicht gerade mit Sonne verwöhnt hatte. Alles an ihm wirkte dunkel, ein bisschen wie bei Claudio, doch da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Dieser Mann erinnerte an einen Panther, Claudio eher an einen Stubentiger.
Kampfsport, dachte Merle. Das könnte ich mir bei ihm gut vorstellen. Sie betrachtete sein dichtes, glänzendes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Er strich es mit einer raschen Bewegung der Hand nach hinten, von wo aus es wieder in alle Richtungen auseinanderfiel. Der Schotterboden staubte unter seinen Schritten, und Merle beobachtete fasziniert, wie sich das ernste, verschlossene Gesicht des Mannes veränderte, als er Tilo die Hand hinstreckte. Für einen kurzen Moment explodierte ein offenes, hinreißendes Lächeln auf seinen Zügen, doch es verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war.
Während Tilo ihr Anliegen vorbrachte und Jette den Wagen
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