Der Schattengaenger
Bänke. Über den ausgestreckten Arm eines Goethedenkmals spazierte eine Taube.
Plötzlich vermisste Imke den Bussard. Sie stellte sich vor, wie er auf dem Scheunendach saß oder auf einem Zaunpfahl und alles überlegen im Blick behielt. In dieser Gegend schien es kaum Raubvögel zu geben. Vielleicht wurden sie nur in manchen Gegenden ausgewildert.
Das Wasser kochte und Imke goss den Tee auf. Während er zog, setzte sie sich wieder an den Laptop. Sie war an einer Stelle angelangt, an der sie eine Entscheidung treffen musste, um die Handlung voranzutreiben. Unschlüssig nagte sie an der Unterlippe.
Kurz darauf wusste sie, dass sie im Moment nicht weiterkommen würde. Und dass es keinen Sinn hatte, am Laptop hocken zu bleiben. Ein Spaziergang würde frischen Wind in ihre Gedanken bringen und vielleicht würde sie unterwegs Tilo anrufen. Sie hatte solche Sehnsucht nach zu Hause, dass es wehtat.
Merle und ich hatten den Peugeot abgeholt und waren nun auf dem Weg nach Hause. Die Sonne stand an einem knatschblauen Himmel und wir hatten das Verdeck heruntergefahren. Nahezu geräuschlos glitten wir durch die Frühlingslandschaft, vorbei an leuchtenden Rapsfeldern und löwenzahngesprenkelten Wiesen.
»Waaahnsinn!« Merle hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Licht und Schatten tanzten über ihr Gesicht. Sie lachte.
Eine Frau hatte uns Wagen und Papiere übergeben. Die Türen zur Werkstatt hatten weit offen gestanden, und wir hatten Arbeitsgeräusche gehört, ein lautes Hämmern, Zischen und Quietschen. Vom Hof aus jedoch, der in leuchtendes Sonnenlicht getaucht war, hatte das Innere der Werkstatt ausgesehen wie ein leeres schwarzes Loch.
Die Frau hatte uns eine gute Fahrt gewünscht und war wieder in ihrem Büro verschwunden.
»Worauf warten wir noch?« Voller Vorfreude hatte Merle sich auf den Beifahrersitz fallen lassen.
Wir waren losgebraust. Die Haare wirbelten uns um den Kopf. Flirrende Lichtpunkte huschten vorbei. Und über uns war nichts als Himmel, wolkenlos.
»Ich liiiebe diesen Wagen!«, schrie Merle, und der Fahrtwind riss ihr die Worte von den Lippen.
Lachend drückte ich ihre Hand. Für einen winzigen, kostbaren Moment war ich glücklich. Einfach aus mir selbst heraus. Das hatte ich schon lange nicht mehr erlebt.
Er hatte sie da draußen gesehen.
Im blendenden Licht der Sonne hatte ihr Haar gewirkt wie ein Heiligenschein.
Es war wie eine Bestätigung seiner Überlegungen gewesen.
Du lässt mir keine andere Möglichkeit, hatte er gedacht. Du zwingst mich dazu.
Was jetzt geschehen würde, hatte Imke Thalheim sich selbst zuzuschreiben.
Der Spaziergang hatte Imke gutgetan. In einem Ausflugscafé mit Blick auf einen schmalen, gewundenen Fluss hatte sie sich ein Stück Kuchen gegönnt und eine ganze Weile nach Herzenslust in den Zeitschriften gestöbert, die dort ausgelegt waren.
Zurück in ihrem Zimmer, hatte sie sich wieder an die Arbeit begeben, doch es war ihr nicht ein einziger Satz gelungen. Sie hatte sich auf den winzigen Balkon gesetzt und auf den Platz hinuntergeschaut.
Sie war über die kritische Stelle in ihrer Geschichte noch nicht hinweg. Bevor sie auch nur daran denken konnte, weiterzuschreiben, musste sie sich über die nächsten Schritte des Täters klar werden.
Auf dem Platz spielten Kinder. Ihre Stimmen wetteiferten mit dem Raunen des Verkehrs, das von der Straße herüberdrang, und dem heiseren Krächzen der Krähen, die sich in den Bäumen zusammengerottet hatten. Imke versuchte, die Augen offen zu halten, doch dann gab sie der Versuchung nach und nickte ein.
Vom Heulen einer Polizeisirene schreckte sie auf und versuchte verwirrt, sich zu orientieren. Und während sie mühsam die Fesseln des Schlafs abstreifte, berührten sich die Welt in ihrem Kopf und die wirkliche, und es fiel Imke wie Schuppen von den Augen.
Es gab nur eine Möglichkeit für den Schattengänger, sie zur Rückkehr zu zwingen.
Keuchend griff sie nach ihrem Handy. »Bitte, Jette«, sagte sie mit einer viel zu hohen Stimme. »Bitte, sei da!«
Merle war damit beschäftigt, die Blumenkübel zu bepflanzen, die sie in der Scheune gefunden hatte, alte, traumhaft schöne Stücke, die eine Zierde für jeden Trödelmarkt gewesen wären. Sie hatte einen Großeinkauf im Gartencenter gemacht, Grünes, Blühendes, bunt Gemischtes und säckeweise Blumenerde, und konnte jetzt aus dem Vollen schöpfen. Darauf hatte sie sich schon lange gefreut.
Es war ein beglückendes Gefühl, mit
Weitere Kostenlose Bücher