Der Schattengaenger
Zeitungsausschnitten, am oberen Rand fein säuberlich mit Quelle und Erscheinungsdatum versehen, Druckschrift, schnörkellos, wie gemalt. Auf den ersten Blick war Bert klar, dass hier ein Besessener am Werk gewesen war.
»Hätten Sie einen Tee für mich?«, fragte er.
Sofort verschwand Imke Thalheim in der Küche, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Bert hörte sie mit Geschirr hantieren, hörte das Geräusch fließenden Wassers und beugte sich wieder über die Zeitungsausschnitte.
Er hatte aus gutem Grund um Tee gebeten und nicht um Kaffee. Mit einem Kaffee aus ihrer Espressomaschine wäre Imke Thalheim schnell wieder zurück gewesen, die Zubereitung von Tee hingegen würde sie für eine Weile vom Wintergarten fernhalten. Bert wollte sich allein einen Eindruck verschaffen, bevor er sich mit ihr darüber unterhielt.
Da sammelte jemand akribisch, was er an Informationen über Imke Thalheim in die Finger bekam, und hatte hier eine Auswahl zusammengestellt. Einzelne Begriffe waren mit leuchtend gelbem Marker hervorgehoben worden, manchmal auch ganze Sätze.
Sprachgewalt. Überbordende Phantasie. Gefangene ihrer Gedankenwelt.
Wieso lenkte jemand die Aufmerksamkeit auf diese Begriffe?
Feine Sensibilität. Psychologisches Gespür. Bilderreichtum. Metaphernflut.
Jeder kritische Einwand eines Rezensenten war in einem zornigen Impuls durchgestrichen worden. Nein, dachte Bert. Nicht einfach durchgestrichen. Niedergemacht. In Grund und Boden gestampft. Da schleppt einer eine ungeheure Wut mit sich herum. Aber auf was? Auf wen?
Die Fotos hätte er beinahe übersehen. Sie lagen zwischen den Kopien, ziemlich weit unten im Stapel, und Bert hätte sie fast überblättert, weil sie aneinanderklebten. Bereits nach dem ersten wusste er definitiv, dass er es hier mit dem Werk eines Psychopathen zu tun hatte.
Und absolut sicher mit einem Mann.
Der Kerl hatte sich die Kamera vors Gesicht gehalten und seine eigenen Lippen fotografiert, jede von einer Sicherheitsnadel durchbohrt. Das Blut, das ihm übers Kinn lief. Seinen obszön aufgerissenen Mund. Die Zähne, die ebenfalls blutig waren.
Krank. Dieser Typ war eindeutig krank. Aber war er auch gefährlich?
Bert wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Imke Thalheim ein Tablett mit Teegeschirr auf den Tisch stellte. Er hatte sie nicht hereinkommen hören. Verstohlen raffte er die Kopien zusammen und ließ die Fotos zwischen ihnen verschwinden. Imke schenkte ein.
»Zucker?«
Bert nickte und sie reichte ihm den Kandis.
»Sahne?«
Bert lehnte dankend ab. Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie zog die Schultern zusammen, wie um sich zu schützen. Dann schaute sie ihn fragend an.
»Es sind Zeitungsartikel«, sagte er. »Über Sie und Ihre Bücher.«
»Auch über Lesungen?«
»Auch das.«
»Interviews?«
Er wusste, worauf sie hinauswollte. Sein Schweigen war ihr Antwort genug.
»Also hat er rund um meine Person jede Menge Material gesammelt.«
So sah es aus. Doch es lag kein Verbrechen vor. Als bekannte, in der Öffentlichkeit stehende Schriftstellerin besaß Imke Thalheim kein Leben, das nur ihr allein gehörte. Es wurde vielfältig zur Schau gestellt, im Radio, im Fernsehen, bei Veranstaltungen und vor allem im Internet.
»Wir leben in einer Zeit, in der es keine Geheimnisse mehr gibt«, sagte Bert. »Über kurz oder lang schnüffelt diese Gesellschaft jedes Detail über jeden Einzelnen aus, solange es nur von allgemeinem Interesse ist.«
Gedankenverloren nippte Imke an ihrem Tee. »Die Kehrseite des Erfolgs«, murmelte sie.
Bert hörte so etwas wie Bedauern in ihren Worten, doch er bezweifelte, dass sie ihren Entschluss, Bücher zu schreiben, jemals bereut hatte. Sie streckte die Hand aus. Bert zögerte, doch dann zog er das zweite Paar Handschuhe aus der Tasche und schob es ihr mit den Unterlagen über den Tisch.
Im Gegensatz zu ihm entdeckte sie die Fotos sofort.
Sie starrte sie an und wurde blass.
Bert nahm sie ihr aus der Hand. »Ein gestörter Mensch. Vergessen Sie ihn.«
»Und er?« Sie setzte die Lesebrille ab und massierte sich die Nasenwurzel. »Wird er mich auch vergessen?«
Nein, dachte Bert. Das wird er nicht. Er denkt Tag und Nacht an dich und schmiedet bereits Pläne, wie er noch näher an dich herankommen kann.
Sie tranken Tee, und Bert registrierte verwundert, dass es draußen stockdunkel geworden war. Auf dem Tisch brannte mit ruhiger Flamme eine Kerze, die Imke angezündet haben musste. Auch das hatte
Weitere Kostenlose Bücher