Der Schattengaenger
von sich preis.
Nach und nach hatte ich mein Leben vor ihm ausgebreitet, ihm sogar von meiner ersten Liebe erzählt. Ich hatte ihn in meinen Kopf schauen lassen und in mein Herz, zitternd, mit Tränen in der Kehle. Er hatte mich festgehalten und meinen Rücken gestreichelt und ich hatte mich für einen winzigen, kostbaren Moment geborgen gefühlt.
»Und du?«, hatte ich ihn gefragt, bereit für seine Geheimnisse, bereit, jetzt ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu halten und vor jedem Schmerz zu beschützen, so gut ich es konnte.
Er war mir ausgewichen. Wie immer.
»Vielleicht bildest du dir das auch bloß ein«, hatte Merle neulich gesagt. »Du …« Ihr Zögern zeigte mir, dass sie noch immer auf eine Weise behutsam mit mir umging, wie man es mit Menschen tat, deren Nerven man nicht trauen konnte. »… du legst jedes Wort von ihm auf die Goldwaage, weil … seit … Wenn ich das bei Claudio machen würde - glaub mir, ich hätte ihn in den ersten Wochen verlassen.«
Merle schaffte es sonst immer, mir mulmige Gefühle auszureden, doch diesmal gelang es ihr nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Mit Luke, mit mir oder mit uns beiden.
Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah das freundliche Gesicht des Professors.
»Ich würde Ihnen gern einen Brief diktieren«, sagte er, legte die Hände auf den Rücken und begann, nachdenklich auf und ab zu wandern. »Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass mein neues Buch,
Wassily Kandinsky und das Geistige in der Kunst, soeben erschienen ist.« Der Professor blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Haben Sie das?«
Ich überlegte blitzschnell, was ich ihm antworten sollte, da setzte er sich wieder in Bewegung. Diesmal ging er nicht hin und her, sondern den langen Weg bis zur Tür, durch die er dann verschwand.
Es war schon oft vorgekommen, dass er mich für seine Sekretärin gehalten hatte. Er hatte mir auch schon häufiger Briefe diktiert und sie danach vergessen. Ich bewahrte sie alle auf, für den Fall, dass er sich doch daran erinnern sollte.
Ich hatte mich gerade wieder an meine Arbeit gemacht, als der Professor zurückkam. »Übrigens«, sagte er. »Es sind anscheinend wieder Spitzel unterwegs. Tarnen Sie sich, wenn Sie das Haus verlassen.«
Ich musterte ihn aufmerksam. In welches seiner Leben war er eingetaucht? Sein Blick war wach und klug. Ich las Besorgnis darin und großväterliche Zärtlichkeit.
»Spitzel?«
Er hob die Hände.
»Und wen beobachten sie?«
»Es ist nur einer«, antwortete er. »Und er beobachtet das Haus.«
Sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Sie war ein völlig anderer Typ.
Jette. Der Name passte zu ihr. Er ließ Bilder einer weiten, flachen Landschaft in Manuels Kopf entstehen. Bilder von Ebbe und Flut. Vom Wattenmeer und von sumpfigen Wiesen.
Es war nicht schwer gewesen, die Informationen zusammenzutragen. Gelobt sei das Internet. Die Kleine hatte schon allerhand mitgemacht. Es hatte ihn erregt zu lesen, dass sie unwissentlich in den Mörder ihrer Freundin verliebt gewesen war. Was für eine Geschichte!
Einen Mangel an Zivilcourage konnte man dem Mädchen wirklich nicht vorwerfen. Sie hatte dem Mörder öffentlich den Kampf angesagt.
Chapeau, dachte Manuel. Vor dir ziehe ich wirklich den Hut. Es hatte ihn interessiert, wie sie jetzt lebte. Er war in das schon fast kitschig verträumte Birkenweiler gefahren und hatte einen Blick auf den alten Bauernhof geworfen, in den sie gerade mit ihrer Freundin eingezogen war. Allerdings hatte er nur ein paar Katzen ausmachen können. Logisch, denn beide waren arbeiten, Jette in diesem Heim für abgedrehte Alte und ihre rothaarige Freundin im Bröhler Tierheim.
Sonderbar, diese Mädchen. Sollten sie sich nicht eigentlich um junge Männer und coole Klamotten kümmern, shoppen gehen und abends in einer Disco rumhängen? Wer machte denn heutzutage noch ein soziales Jahr, und das sogar freiwillig?
Es gab drei weitere WG-Bewohner, doch die lebten zurzeit nicht hier. Manuel würde später herausfinden, aus welchem Grund. Er hatte alle Zeit der Welt.
Als Nächstes war er zum St. Marien gefahren und hatte das Haus auf sich wirken lassen. Alte Leute gingen auf den Wegen des kleinen Parks umher, der zu dem Heim gehörte, manche auf einen Stock gestützt, manche auf einen Rollator, viele auf den Arm einer Begleitperson. Die wenigsten schienen noch aus eigener Kraft einen Spaziergang bewältigen zu können.
Scheußlich,
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