Der Schattengaenger
einfach, diese Situation zu kontrollieren.
Ah, und da war ja auch Imke Thalheims heimlicher Verehrer. Dass es sich bei ihm um Hauptkommissar Bert Melzig handelte, hatte Manuel inzwischen recherchiert. Er wusste auch, dass dieser Mann den Tod der Putzfrau untersuchte.
Die Zeitungen hatten es Mord genannt. Wie harmlos manche Worte klangen.
Der Kommissar machte keine Bilder. Er fotografierte mit den Augen. Ein paar Mal hatte er sich bereits in Manuels Richtung gewandt, doch er hatte ihn nicht entdeckt. Niemand würde ihn entdecken, nicht hinter dieser spinnwebverhangenen Glasscheibe und unter all dem Efeugestrüpp.
Während Manuel aufmerksam die Gesichter studierte, wurde ihm klar, dass er sich den ganzen Aufwand hätte sparen können. Sie war nicht hier. Verzweifelt irrte sein Blick über die Menge. Er war sich doch so sicher gewesen.
Er hatte Mühe, es zu begreifen. Wieso war sie nicht zur Beerdigung ihrer Putzfrau erschienen? Es gehörte sich nicht, einem Menschen, den man so gut gekannt hatte, das letzte Geleit zu verweigern.
Und endlich spürte er etwas. Eine Enttäuschung, die dermaßen heftig von ihm Besitz ergriff, dass ihm die Knie weich wurden. Die fremden Gesichter verschwammen vor seinen Augen. Er blinzelte.
Imke Thalheim hatte sich ihm entzogen und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte sie verloren. Was, wenn sie niemals wieder zurückkäme? Wenn sie die Mühle verkaufte und …
Manuels Blick fiel auf Tilo Baumgart und dann auf zwei Mädchen, die sich an den Händen hielten. Das eine Mädchen kannte er.
In Gedanken sah er die Putzfrau noch einmal stürzen. Sah sich selbst, wie er sich umdrehte und zum Fenster ging. Er hatte hinausgeschaut, um zu überprüfen, ob die Luft rein war. Und da hatte er das Mädchen gesehen. Es war aus einem alten Renault ausgestiegen und direkt auf ihn zugekommen. In letzter Sekunde hatte er sich verbergen können.
Ihren Namen kannte er aus den Zeitungen. Jette. Imke Thalheims Tochter.
Manuel atmete zitternd ein. Es gab immer einen Weg, und hier lag er, direkt vor seinen Augen.
Der weiche Waldboden federte unter Imkes Schritten. Das vom vielen Regen der vergangenen Wochen noch feuchte Holz duftete nach Harz. Hoch oben ließen die Baumkronen ab und zu ein Stück Himmel durchblitzen, blau, weiß. Kein Windhauch regte sich.
Der Gesang der Vögel war wie ein Requiem.
Imke hatte ihre Wanderung so geplant, dass sie genau um diese Zeit im Wald sein würde, an ihrer liebsten Stelle, um Abschied zu nehmen von Frau Bergerhausen. Und da war schon die Lichtung mit den Moospolstern und dem kleinen Urwald aus Farnbüscheln.
Der hier weithin sichtbare Himmel war, wie Imke ihn mochte, rau und zerklüftet, lebendig und wild. Kein anderer Himmel hätte zu diesem Anlass gepasst.
Imke nahm auf einem Baumstamm Platz, der vor Jahren umgestürzt sein musste, denn er war von Flechten und Moos überwuchert, und aus seiner bröckligen Rinde waren kräftige Triebe gesprossen und zu neuen Bäumchen herangewachsen.
Der Tod ist auch ein Anfang, dachte Imke und presste die Hände auf ihren Magen. Sie hatte zum Frühstück nichts heruntergebracht, nicht einmal einen Bissen Toast. Ihr Magen reagierte gereizt, schüttete Säure aus und zog sich in Krämpfen zusammen.
Wie lange schon hatte sie sich vorgenommen, Frau Bergerhausen zu einem gemütlichen Kaffeetrinken einzuladen. Wie oft hatten sie davon gesprochen. Nie jedoch war Zeit dafür gewesen. Irgendein Termin hatte Imke immer gehetzt und nun war es zu spät.
Die Sonne schob sich hinter einer Wolke hervor und wärmte ihr das Gesicht. Imke legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihre Lider zitterten vor Nervosität.
Ich habe sie umgebracht.
Sie wusste nicht, wie sie mit diesem Wissen leben sollte. Sie hatte keine Ahnung, ob sie je darüber hinwegkommen würde.
Selbst wenn Frau Bergerhausen sich hätte retten wollen - sie hätte es nicht gekonnt, weil Imke sie nicht eingeweiht hatte. Was für ein schrecklicher Gedanke.
Ich bin eine Gefahr für jeden, der mich kennt.
Langsam machte Imke die Augen auf. Sie war hierhergekommen, um Abschied zu nehmen, und genau das würde sie jetzt tun. Während zu Hause das gesamte Dorf Frau Bergerhausen auf ihrem letzten Weg begleitete, saß Imke still in der Kapelle aus Licht und Schatten und sprach zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Gebet.
Kapitel 18
Tilo war auf dem Weg zu seiner Wohnung. Wenigstens ab und zu musste er dort nach dem Rechten sehen. In den Wintermonaten
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