Der Schattengaenger
Schritte im Treppenhaus, Musik, das Rauschen in den Wasserleitungen und dann natürlich den Lärm von der Straße. Rasch machte Merle die Augen wieder auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Stille heute aushalten würde.
Manchmal brauchte sie es, dass die Dinge in Bewegung waren. Da konnte sie nicht ohne Menschen sein. Heute war so ein Tag. Es gab keinen bestimmten Grund dafür.
»Ich hab den Blues«, sang sie leise. »Den schönen, schauderhaften Blues.«
Als hätte sie ihm damit das Stichwort gegeben, kam Smoky zu ihr getrottet, setzte sich hin und starrte ihr mit einem absolut unergründlichen Blick in die Augen.
»Den Blues«, improvisierte Merle und starrte zurück, »den fiesesten, miesesten Blues, Baby.«
Smoky schien von ihr fasziniert zu sein. Er blinzelte nicht einmal.
»Du kannst es auch Melancholie nennen«, sagte Merle. »Hättest du gedacht, dass ich melancholisch bin?«
Smoky legte den Kopf schief.
»Heißt das Ja oder Nein?«
Vielleicht kam es daher, dass nach ein paar strahlend blauen Tagen das Schmuddelwetter zurückgekehrt war. Im vollen Sonnenlicht sah der Hof zauberhaft aus. Sogar die Wiese besaß dann eine gewisse Schönheit. War der Himmel jedoch grau, schien sich alles mit fahler Trostlosigkeit vollzusaugen.
»Auch meine Seele«, erklärte Merle und strich Smoky über den alten grauen Katerkopf.
Smoky schloss die Augen und fing an zu schnurren. Es klang wie das ferne, scheppernde Rattern eines in die Jahre gekommenen Traktors.
»Du und ich«, sagte Merle leise.
Smokys Nase war feucht und kalt. Er fuhr ihr mit seiner kleinen, rauen Zunge über das Handgelenk. Und als wüsste er, dass er sich damit verhielt wie ein Hund, wandte er sich verlegen ab und trottete zum Sofa zurück.
Merle räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Sie ging langsam durch das Haus, schaute sich in jedem Zimmer um, damit sie es endlich glauben konnte: Ihr Traum hatte sich erfüllt, sie lebten auf einem Bauernhof.
Minas Zimmer war noch leer. Sie würden in aller Ruhe nach ein paar gebrauchten Möbeln suchen, damit etwas da war, wenn Mina aus der Klinik zurückkam. In Mikes Zimmer standen seine wenigen Möbel und ein paar Kisten und Kartons. Auch Ilkas Zimmer war noch leer. Sie würde nach der Brasilienreise ihre eigenen Sachen herbeischaffen.
Jettes und Merles Zimmer waren so gut wie fertig, ebenso die Küche und das Bad. Es hingen jedoch noch nicht alle Bilder an den Wänden und eine Reihe von Zimmerpflanzen hatten noch nicht ihren endgültigen Platz gefunden.
Unbelebt, dachte Merle. Das Haus ist noch vollkommen unbelebt.
Hier war zu lange nicht mehr geredet und gelacht, geliebt und gestritten worden. Niemand hatte in den vergangenen Jahren in der Küche gestanden und gekocht, keiner hatte einen Lesemarathon in der Badewanne veranstaltet oder zu zweit die Dusche benutzt. Kälte war in die Winkel gekrochen, und es würde mehr als kräftiges Heizen brauchen, um sie wieder daraus zu vertreiben.
Aber das würde ihnen gelingen, daran hatte Merle keinen Zweifel. Sie zog ihre Jacke vom Garderobenhaken, wickelte sich ihren Lieblingsschal um den Hals und verließ das Haus.
Bis zur Bushaltestelle war es nicht weit. Man konnte den Weg locker in fünf Minuten schaffen. Nach den ersten Metern legte sich Merles bedrückte Stimmung. Es gab so viel zu sehen. Da störte nicht mal der Nieselregen, der in der Luft hing wie Nebel.
Birkenweiler. Ein neuer Ort.
Ein Anfang, dachte Merle und muckelte sich tiefer in ihre Jacke ein. Vielleicht hatten sie das gebraucht, eine komplette, radikale Veränderung. Vielleicht würde das Unglück sie jetzt verschonen.
Tilo hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Er spürte Blicke auf sich ruhen und immer wieder die Nähe eines Menschen, der sich nicht zeigte. Manchmal drehte er sich blitzschnell um, doch niemals ertappte er jemanden dabei, ihn zu beobachten.
Inzwischen hatte er es sich angewöhnt, die Menschen, denen er begegnete, ganz bewusst wahrzunehmen. Er schaute genau hin, um sich später womöglich erinnern zu können.
Er hatte seine Unbefangenheit verloren.
Keinen Schritt konnte er mehr tun, ohne nach rechts und links zu spähen, keinem Menschen mehr glauben, dass sein Lächeln echt und harmlos war. Er hatte schon so manchen Patienten behandelt, der an Verfolgungswahn gelitten hatte. Wer sagte denn, dass er nicht mittlerweile selbst ein Fall für einen Kollegen war?
Es war jedoch wahrscheinlicher, dass er tatsächlich beobachtet wurde. Imke war seit zwei
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