Der Schattenjäger (German Edition)
tauchte das Glas in das kühle Wasser.
»Nun halte das Glas gegen das Fenster und sage mir, was du darin siehst.«
»Wasser«, sagte Sascha mürrisch.
»Und was noch? Halte es höher, damit das Licht durchscheint.«
Sascha hielt das Glas am gestreckten Arm, sodass das Sonnenlicht hineinfiel. Und nun sah er … Tausende und Abertausende Staubpartikel im Sonnenlicht schweben. Im Schatten sahen sie matt und leblos aus, aber sobald das Sonnenlicht sie traf, glänzten sie wie Sterne.
»Erinnerst du dich an die Schöpfungsgeschichte, Sascha? Gott der Herr goss sein unendliches Licht in das All, doch die Gefäße, die es empfangen sollten, vermochten es nicht zu halten. Sie zerbrachen und die Funken der Schöpfung fielen auf die Erde und wurden in den Hülsen unserer sterblichen Körper geborgen. Das Glas ist dein Körper und das Wasser ist deine Seele. Wenn du Wasser aus dem Wassereimer holst, wirst du geboren. Und wenn du es in den Eimer zurückgießt, stirbst du. Zwischen diesen beiden Augenblicken wird sich das Wasser im Glas nicht daran erinnern, dass es einmal mit dem Wasser im Eimer vereint war. Ebenso weiß das Wasser im Eimer nicht, dass es eines Wesens ist mit dem Wasser aller Meere. Doch die Funken, Sascha, die Funken erinnern sich.«
Sascha beobachtete, wie die Funken wirbelten und wie Staubkörnchen im Sonnenlicht tanzten.
»Wir leben in einer gebrechlichen Welt«, sagte Rabbi Kessler. »Schon seit Beginn der Schöpfung und mit jeder weiteren bösen Tat wird der Riss in dieser Welt größer und größer und der Weg der Rückkehr länger und länger. Doch selbst in einer tief gespaltenen Seele glimmt der göttliche Funken, der sich nach seinem Ursprung zurücksehnt und wieder mit ihm eins werden will. Alle Funken suchen ein Gefäß, eine Hülse, einen Körper, in dem sie diese Reise machen können. Danach verlangt auch der göttliche Funke in deinem Dibbuk – und das sucht er in dir, Sascha.« Rabbi Kessler sah die Verwunderung, die sich in Saschas Gesicht zeigte. »Ja, Sascha, mag der Dibbuk in seiner Böswilligkeit auch deinen Untergang wollen, so glimmt doch selbst in ihm ein Rest einer lebendigen Seele, die zu ihrem Schöpfer zurückkehren will. Und dennoch möchtest du diesen Seelendoppelgänger zerstören. Du verlangst, dass ich dich einen Zauber lehre, mit dem deine Schattengestalt in die Finsternis gebannt werde, während du im Licht der Sonne wandelst. Das kann nicht sein. Ebenso gut könntest du von mir verlangen, dieses Glas zu zerbrechen und das Wasser in meinen Händen aufzufangen, ehe es auf dem Boden verrinnt.«
»Welche Hoffnung gibt es dann für ihn und mich?«
»Die gleiche Hoffnung, die alle Seelen haben. Dibbuks sind keine Golems. Sie sind keine Kreaturen des Menschen, sie sind nicht aus Lehm und Stroh gemacht. Sie sind der Odem des Schöpfers wie wir auch. Und wie wir werden ihre Seelen jedes Jahr, wenn Gott das große Buch des Lebens und des Todes aufschlägt, nach Gutem und Bösem gewogen. Solange das so ist, steht auch ihnen der Weg der Rückkehr offen. Der Aufstieg aus der Dunkelheit zum Licht mag lang und beschwerlich sein, aber er beginnt nach wie vor mit einem einzigen Schritt.«
»Du meinst, ich soll einen Dibbuk zur
Teschuwa
bewegen?«, fragte Sascha ungläubig. Die Idee überstieg sein Vorstellungsvermögen. »Wie soll ich das anstellen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Rabbi Kessler. »Aber eines weiß ich gewiss: Es gibt keinen Zauber, der das an deiner Stelle zuwege bringen könnte.«
Sascha atmete tief durch, um eine weitere Frage zu stellen, als Stimmengewirr und Fußgetrappel von draußen zu hören waren. Er trat ans Fenster und sah eine Menschenmenge die Canal Street hinunterlaufen.
Sascha hielt einen Passanten an und fragte ihn nach dem Grund für die Eile.
»Der Streik hat begonnen!«, keuchte der junge Mann. »Die Arbeiter bei Pentacle gehen morgen auf die Straße. Und die Hälfte der Fabriken in der Stadt will sich ihnen anschließen.«
21 Streik!
Sascha lief zuerst nach Hause in die Hester Street, da er dachte, die Stelle, die ihm am besten Auskunft über den kommenden Streik geben könnte, sei die IMW -Zentrale. Dort traf er Beka, die sich um die Übersetzungen kümmerte. Sie saß an einem wackeligen Tischchen, auf dem ein Schild mit der Aufschrift »Übersetzungen« in allen möglichen Sprachen stand, die Sascha beherrschte oder vielmehr nicht. Rechts und links gab es die »Anmeldung« beziehungsweise »Beschwerden«.
»Ich bin den ganzen Weg von
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