Der Schattenjäger (German Edition)
abzugleiten oder den Weg des Nichthandelns zu gehen.«
»Aber ich bin doch kein großer Magier«, sagte Sascha entmutigt. »Ich kann doch nur erkennen, wenn andere zaubern. Und das ist nur ein dummer Trick.«
Shen lächelte still. Dabei fiel eine Wolke duftender Jasminblätter von den Dachbalken und übersäte, wie die ersten Schneeflocken zu Winterbeginn, den friedvoll daliegenden Innenhof mit weißen Blüten.
Sascha schaute ihnen nach. Dann sah er Shen an. Magie umschimmerte sie wie Sternenlicht und lag auch in ihrem Lächeln: sanft, gütig, ein bisschen traurig … und sehr weise. Diese Magie war einfach nur da. Sich selbst genug, verbreitete sie Ruhe und Gelassenheit, die aus hart erworbener Weisheit strömte.
»Sprich nicht so abschätzig von deiner Begabung«, sagte sie zu ihm. »Wenn du die Magie eines anderen erkennen kannst, dann siehst du in sein Herz, denn daher kommt alle wahre Magie. In deinem ganzen weiteren Leben wirst du jedem Magier bis in die verborgenen Winkel seiner Seele schauen können, der seine Macht vor dir zeigt. Und Menschen bis ins Innerste – im Guten wie im Schlechten – zu durchschauen, ist eine Begabung, die nur wenige besitzen. Ich will ehrlich und offen zu dir sein, Sascha. Ich weiß nicht, ob du den Dibbuk unschädlich machen kannst.«
»Dann kannst du mir also nicht helfen?«, flüsterte Sascha.
»Natürlich kann ich dir helfen. Ich will nur keine falschen Hoffnungen wecken.« Sie stand auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Komm, ich bring dich nach Hause.«
Sascha und Shen verabschieden sich vor den Eingangsstufen, und als der Junge erschöpft die Kesslerwohnung betrat, stand Dopey Benny schon wieder in der Küche. Sascha fragte sich, ob er hier Wurzeln geschlagen hatte.
»Meyer möchte dich sehen, jetzt«, teilte Benny mit. Sascha stöhnte und ließ sich willenlos von Benny zum Süßwarenladen bringen.
Dort angekommen, saß Minsky wieder am Schreibtisch im goldenen Licht der Lampe. Und Nebbich stand im Schatten hinter ihm. Doch sein Rücken war gekrümmt, das Licht in seinen Augen schien erloschen und seine Gesichtshaut trocken und verwelkt wie die eines verschrumpelten Apfels. Er sah aus, als sei ihm das Mark aus den Knochen gesogen worden.
»Nebbs muss dir etwas berichten«, sagte Meyer mit einer Stimme, die so schneidend war, dass Sascha am liebsten kehrtgemacht und nach Hause gegangen wäre. Nebbs ordnete lange seine Gedanken, so als verlangte schon die bloße Erinnerung an die Geschichte eine tödliche Anstrengung. Und dann begann er.
»Nachdem du uns alles über den kleinen Schlosky erzählt hast, fragte sich Meyer, ob es nicht besser sei, wenn einer in die Grüfte ginge, um dort nach dem Rechten zu schauen. Du weißt schon, damit der Kleine nicht verunglückte, während er in seiner Zelle saß. Also tat ich, was ich konnte – sagen wir einfach, es ist leichter hineinzukommen, als wieder aus den Grüften heraus.
Jedenfalls kam ich gerade noch vor der Essensausgabe und sah auch den kleinen Schlosky. Er wirkte leicht mitgenommen. Viel habe ich ja nicht von ihm gesehen, denn die Bullen haben ihn gleich nach dem Essen in den Keller zu einem kleinen Verhör gebracht. Gegen Abend kommt er wieder herauf und sieht etwas ramponierter aus. Und nun wird die Geschichte schräg. Denn die Bullen bringen ihn nicht zurück in den großen Käfig mit uns anderen. Sie schleppen ihn in die letzte Zelle auf dem Gang. Und er wird da ganz allein eingeschlossen. Dann hörten wir dieses Flüstern.«
Minsky rutschte unruhig auf seinem Stuhl. Sascha sah, dass der Gangsterboss ihn genau beobachtete.
»Zuerst dachten wir, der Junge rede mit sich selbst«, fuhr Nebbs fort. »Aber dann fing er wirklich eine Unterhaltung an, und da merkten wir, dass da noch jemand anderes in der Zelle war.«
»Und haben Sie« – Sascha schluckte – »haben Sie den anderen hineingehen sehen?«
»Das nicht. Ich könnte noch nicht einmal schwören, dass ich ihn gehört habe. Nur so ein dünnes Flüstern, keine richtige Stimme. Aber ganz gleich, was es war, es sprach unaufhörlich auf Sam Schlosky ein, denn der Junge antwortete ihm, bat ihn aufzuhören, versprach, alles zu tun, wenn er nur in Ruhe gelassen würde. Es ging die ganze Nacht. Und am nächsten Morgen waren da plötzlich zwei Jungen: Sam Schlosky, mausetot, und der andere, der aussah wie die Katze, die ihn gefressen hatte.«
»Schon in der Nacht zuvor mussten zwei Jungen in der Zelle gewesen sein«, widersprach
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