Der Schattenjäger (German Edition)
Sascha.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, beharrte Nebbs. »Und ich weiß auch, was ich nicht gesehen habe. Bei Anbruch der Nacht war es ein Junge und bei Tagesanbruch waren es zwei.«
Minsky hatte Sascha die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Seinen Glücksbringer, das Fünfcentstück, in der geschlossenen Faust, sagte er mit unergründlicher Miene: »Erzähl ihm von den Fliegen, Nebbs.«
»Oh ja«, sagte Nebbs. »Das ist die Härte. Immer wenn ich in den Grüften war, wimmelte es dort von Fliegen. Sogar mitten im Winter flogen sie umher. Aber gestern Nacht, als der Flüsterer Sam Schlosky nach und nach um den Verstand gebracht hat, ließ sich nirgendwo eine einzige Fliege blicken.«
»Und was geschah am Morgen?«, fragte Sascha.
»Der andere Junge marschierte ungehindert aus der Zelle, so als ob es weder ein Schloss noch einen Bann gegeben hätte.«
»Haben Sie ihn dann sehen können?«
»Ich habe mir schon gedacht, dass dich das interessieren könnte«, sagte Minksy mit leiser, gefährlicher Stimme.
Der Nebbich sah Sascha mit festem Blick an. Dann drehte er sich zu Minsky, wies mit zitternder Hand auf Sascha und sagte: »Wie schon gesagt, Boss.
Er
war es.«
20 Funken und Hülsen
Sascha spürte die gleiche beklemmende Angst, die er schon im vergangenen Sommer erlebt hatte, als der Dibbuk ihm durch die nächtlichen Straßen gefolgt war. Wieder hatte er das Gefühl, am Grund eines tiefen Brunnens zu sitzen, abgeschnitten von der alltäglichen Welt seiner Mitmenschen, der Welt der Wärme und des Lachens und so weit fort, dass ihn niemand erreichte.
Minsky sprach, aber Sascha hörte nicht, was er sagte. Da er nicht antwortete, packte ihn der Gangster an den Schultern und rüttelte ihn unsanft.
»Ich sagte, ist das ein schlechter Scherz?«
»Nein«, flüsterte Sascha.
»Was für eine Erklärung kannst du mir dann geben?«
»Ich habe keine.«
»Ist das etwa alles, was du zu sagen hast?« Minsky war wütend. »Das reicht nicht. Das reicht bei Weitem nicht!«
»Das war nicht ich!«, rief Sascha. »Es war ein Dibbuk! Jemand hat einen Dibbuk auf mich gehetzt!«
»Wer?«
»Morgaunt!«
»Unmöglich! Nur ein Kabbalist kann einen Dibbuk heraufbeschwören!«
»Er hat eine Maschine. Edison hat sie für ihn konstruiert!«
Minsky war perplex. »Moment mal. Meinst du etwa den Ätherographen?«
Minsky löste seinen Griff an Saschas Schulter, der sich die Arme rieb und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Gangster stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»In den Grüften haben sie einen Ätherographen, an den sie Häftlinge anschließen. Wusstest du das?«
Sascha nickte. »Wolf sagt, jedes Polizeirevier soll so eine Maschine bekommen.«
»Das stimmt«, bestätigte Minsky. »Und sie schleppen nun schon seit Monaten meine Jungs in die Katakomben, einen nach dem anderen, ohne jeden triftigen Grund, und schließen sie an diese Maschine an. Und nicht nur meine Jungs. Sie knöpfen sich so ziemlich jede Gangsterbande in New York vor. Offenbar planen sie, jeden cleveren Burschen in der Stadt an diese Maschine zu hängen.«
»Sie machen Aufnahmen. Morgaunt hat einen Schrank in seiner Bibliothek mit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden.«
»Soll das heißen, dass er aus allen Dibbuks machen könnte?«
»Vielleicht.« Sascha schauderte bei dem Gedanken. »Ich weiß es nicht.«
»Und wie war der Klezmerkönig in diese Sache verwickelt?«
Sascha zögerte. Er wusste nicht, wie viel von der ganzen Geschichte er Minsky verraten sollte.
»Besser, du erzählst es mir«, drohte ihm Minsky mit seidenweicher Stimme.
»Das will ich doch! Nur – wir wissen nichts Genaues. Wir glauben, dass Morgaunt Asher Seelenaufnahmen gegeben hat. Daraus hatte er seine neuen Lieder gemacht. Und im Gegenzug musste er sich bereit erklärt haben, für Morgaunt Hemden zu nähen.«
»Hemden nähen?«, rief Minsky verächtlich. »Morgaunt hat eine ganze Armee von Arbeitern, die für ihn Hemden nähen. Wozu brauchte er da Asher?«
»Weil Asher offenbar über ungewöhnlich große magische Kräfte verfügte. Und Morgaunt wollte im Voraus Hemden produzieren, um im Falle eines Streiks bei Pentacle dennoch liefern zu können – oder zumindest erklären wir es uns so. Doch dann wollte er den Pakt kündigen, und da hat ihn Morgaunt umbringen lassen.«
»Und da kaufte er sich einen neuen Produzenten, um den alten zu ersetzen, jetzt verstehe ich. Gut, das erklärt das Schicksal des Klezmerkönigs und auch das von
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