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Der Schattenjäger (German Edition)

Der Schattenjäger (German Edition)

Titel: Der Schattenjäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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um alles in der Welt erlaubst du dir?«
    »Nichts, aber gar nichts!«, beschwichtigte sie Mordechai. »Ich heiße nur unseren erlauchten Gast in unserer bescheidenen Hütte willkommen.«
    »Sehe ich etwa wie ein Esel aus?«, fragte Ruthie Kessler.
    »Ich, äh …«
    »Das gehört alles zu diesem haarsträubenden Plan, den du und Nathan Jablonski ausgeheckt habt, um für schnödes Geld die Herzen armer, hilfloser junger Frauen zu brechen, stimmt’s?«
    »Nein, Ruthie, nein, du verstehst das ganz falsch.«
    »Oh, ich verstehe sehr gut. Und ich habe nicht schlecht Lust, Nathans Mutter ein Licht aufzustecken.«
    »Oh, liebe Schwägerin, das wäre äußerst unglückselig.«
    »Für dich, meinst du wohl!«
    »Ja, aber wer sind Sie denn nun?«, fragte Lily zweifelnd.
    »Haha, Mordechai Kessler natürlich!« Mordechai grinste Lily charmant an. »Da haben sich meine Freunde einen kleinen Scherz mit mir erlaubt.«
    »Mordechai!«, knurrte ihn Saschas Vater an.
    »Schon gut, schon gut!«, rief Mordechai, gab das Leugnen auf und gestand alles.
    Lily war von Mordechais Beichte ganz überwältigt. Mehrmals öffnete sie den Mund, ohne etwas über die Lippen zu bringen, und schaute immer wieder zwischen Mordechai und Sascha hin und her, als vermutete sie, Sascha könnte in das Versteckspiel eingeweiht sein.
    »Mach den Mund zu«, sagte Sascha ihr im Spaß. »Du siehst ja aus wie ein Karpfen in einem Fischladen in Chinatown.«
    Unterdessen hatte Mrs Lehrer im ganzen Zimmer für den letzten Schliff gesorgt. Alles stand bereit, der kleine Küchentisch hatte dank der schneeweißen Spitzendecke von Mrs Lehrers Großmutter ein festliches Kleid bekommen. Die Gerichte für den Seder und das Silberbesteck lagen bereit. Die Lammhaxen glänzten auf dem Pessachteller und der
Afikoman
schmiegte sich in sein Tuch. Alles war, wie es sein sollte. Und alle waren da – außer der einen Person, die nie wieder mit ihnen am Tisch sitzen würde.
    Sascha spürte einen Kloß im Hals, aber ehe er in traurige Gedanken versank, erhob sich sein Vater und schaute die am Tisch Versammelten an. Die übrigen Familienmitglieder warteten stumm und weiß wie Gespenster. Sascha sah zu seiner Mutter hinüber und bemerkte Tränen in ihren Augen. Ging es seinem ruhig dastehenden Vater wohl ebenso? Sascha hatte ihn noch nie weinen sehen und wusste nicht, ob er den Anblick ertragen würde.
    Mr Kessler räusperte sich. Dann sprach er mit klarer, fester Stimme: »Mein Vater sagte immer, es sei eine Sünde, am Sabbat unglücklich zu sein«, begann er. »Ich wage daher gar nicht daran zu denken, was er zu jemandem gesagt hätte, der sich am Pessachfest ein trauriges Gesicht erlaubte.«
    Und dann führte er alle so natürlich und ungezwungen durch die Sederfeier, als ob er das schon immer getan hätte. Der Rest der Familie brauchte ein paar Minuten, um ihm darin zu folgen, aber dann zog er alle mit sich, weil er ihnen durch seinen Gesichtsausdruck deutlich machte, dass es das Beste war.
    Wolf und Lily schienen sich am Tisch in Kesslers Wohnküche ganz zu Hause zu fühlen. Wolf folgte den einzelnen Schritten der Zeremonie, als hätte er schon hundert Sederabende in seinem Leben gefeiert, was Saschas Wissen nach nicht der Fall war. Und Lily kostete freudig alles, was ihr unter die Augen kam, und erkundigte sich bei Saschas Mutter ebenso interessiert nach den Zutaten des
Charosset
wie mit einer etwas merkwürdigen Faszination nach den zehn Plagen.
    Bei allem fragte sich Sascha, wie fremd den Gästen doch die dreitausend Jahre alte Geschichte von Sklaverei und Befreiung sein musste. Als sein Vater die Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten begann, quälten Sascha Gewissensbisse wegen eines Gesichts, das an der Tafel fehlte. Er hatte Philip Payton zusammen mit Wolf und Lily eingeladen. Vielleicht hatte er es ungeschickt formuliert, denn gegenüber Payton verhielt er sich nach wie vor verlegen. Was auch der Grund gewesen sein mochte, warum Payton die Einladung abgelehnt hatte. Während Sascha seinem Vater also zuhörte, dachte er über Wolfs inoffiziellen Lehrling nach – denn laut Wolf war Payton nur wegen seiner Hautfarbe kein Lehrling der Inquisitionsabteilung geworden. Was Payton wohl darüber dachte? Würde er überhaupt weiter für Wolf arbeiten, wenn seine Familie nach Harlem umzog? Und würden sie dort ihr Glück finden? Irgendwie bezweifelte Sascha das. Er hatte das Echo eines höhnischen Kommentars von Bella da Serpa im Ohr, die Wolf einmal gesagt hatte,

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