Der Schattensucher (German Edition)
Füßen wurde weich, seine Schritte wurden leiser. Auch wenn Levin den Kopf kaum bewegte, suchten seine Augen unentwegt die Umgebung ab. Nahezu jeden Winkel des Ortes hatte er im Blick.
Seine Vorsicht wurde nicht geringer, als er den Brunnen erblickte, an dem ein hagerer Mann ihn erwartete. Levin ging langsamer, seine Augen wanderten umso schneller. Der Hagere lächelte ihm entgegen. Mit einer unauffälligen Bewegung schob Levin das Tuch über sein linkes Ohr. Er konnte nun jedes Geräusch wahrnehmen.
Der Hagere stand nicht mehr viele Schritte von ihm entfernt. Dies wäre normalerweise der Moment gewesen, in dem Levin das Gespräch begonnen hätte. Doch er blieb ruhig und ging langsam weiter.
Etwas stimmt nicht , sagte eine innere Stimme ununterbrochen. Wenn ich nur wüsste, was es ist?
Alles war wie ausgemacht. Keine Räuberbande, nur ein Mann, direkt am Brunnen, sodass Levin leicht zum Baum hätte gelangen können. Sein Ohr nahm keine verdächtigen Geräusche im Gebüsch wahr.
Er musterte den Hageren noch einmal. Er hatte leere, fast teilnahmslose Augen. Die Kleider entsprachen denen des höheren Standes. Aber sie wollten nicht so recht zum Gesicht, überhaupt zum Körper passen.
Etwas stimmt nicht. Es ist wie bei diesem Kerl vorhin. Alles ist, wie es sein sollte, und doch kann ich ihm nicht trauen.
Dann erkannte er, was ihn störte. Er stellte sich den Mann vom Senatshaus in der Kleidung des Hageren vor und augenblicklich wusste er, dass er keinen Anführer vor sich hatte. Natürlich, jetzt sah er es deutlich. Unter den Fingernägeln des Mannes befand sich dunkler, hartnäckiger Dreck, den ein Mann dieses Standes niemals an sich tragen würde. Den Gürtel hatte er verkehrt herum angelegt, ein Hinweis darauf, dass er normalerweise eine einfache Schlinge um seinen Bauch trug.
Also schön, was geht hier vor?
Er näherte sich dem Brunnen ohne hektische Bewegung. Zugleich zählte er, wie viele Schritte er zu seinem Baum benötigen würde.
»Ihr seid also Darius.«
»So ist es«, antwortete der Hagere übertrieben vornehm.
Der Mann hatte sich so postiert, dass Levin sich direkt neben den Brunnen stellen musste, wenn er mit ihm sprechen wollte.
»Also: Was habt Ihr für mich?«
Der Mann schaute ihm fragend in die Augen.
»Ach so. Nein, die Binde bleibt, wo sie ist.«
»Wie Ihr wollt. Ich habe einen Auftrag für Euch.«
»Ich bin gespannt, verehrter Herr.«
Der Mann trat nervös auf der Stelle. Nicht auffällig, aber Levin sah es.
»Nun, es ist so, dass …« Er redete langsam, drucksend. Zweimal schon hatte er einen kurzen Seitenblick zum Brunnen geworfen. »… es gibt da etwas sehr Wichtiges.«
»Nun?«
Der Mann antwortete nicht, sondern schien etwas zu erwarten. Einen Augenblick später duckte Levin sich blitzartig und wurde nur knapp von einem Holzbalken verfehlt, der ihm aus dem Brunnen heraus entgegengestoßen wurde.
»Verdammt, du hast ihn verfehlt!«, brüllte der Hagere, als Levin sich an ihm vorbeirollte.
»Schnapp ihn dir«, tönte es von einem anderen Mann, der aus dem Brunnen stieg.
Levin drehte sich nicht um, sondern schnellte hoch, riss sich die Binde von den Augen und hastete auf den Baum zu. Aus sicherer Entfernung sprang er dem unteren Ast entgegen und ergriff ihn mit beiden Händen. Geschickt zog er sich hoch, warf einen Blick auf die beiden Männer, die die Verfolgung aufnahmen, und stieg auf den nächsthöheren Ast. Der Wipfel des Baumes ragte über den Brunnen hinweg zur Mauer. Fünf Meter musste er überqueren. Sein Holzsteg war noch da. Er setzte einen Fuß vor den anderen, zuerst langsam, dann zügiger. Erst als er die Mitte des Brettes erreichte, fiel ihm die Veränderung auf: Ein dünner Sägespalt zog sich über die halbe Breite an der Stelle, auf die er soeben seinen Fuß setzte. Ehe er zurückweichen konnte, hörte er das Splittern des Holzes, spürte, wie sein Fuß nach unten gezogen wurde und er zwischen den Blättern hinabstürzte, haltlos, dem Brunnenloch entgegen. Kurz bevor er ins schwarze Ungewisse eintauchte, hörte er, wie etwas Hartes gegen einen Stein schlug. Ein dumpfer Schmerz ging plötzlich von seinem Hinterkopf aus und ihm wurde schwarz vor Augen. Das Plätschern hörte er nicht mehr.
7. Kapitel
Alsuna, Jahr 295 nach Stadtgründung
Während Alvin dem Wirt nach oben zur Kammer folgte, rief er sich noch einmal in Erinnerung, was letzte Woche geschehen war. Der Bäcker hatte ihn zum Silberbrunnen geschickt, um Wasser zu holen. Als er dort angekommen
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