Der Schattensucher (German Edition)
war, hatte ein ungewöhnlicher Tumult geherrscht. Rings um den Brunnen hatten Leute gestanden, entsetzt und hilflos, während ihre Esel und Kühe unbeaufsichtigt durcheinanderliefen. Vor dem Brunnen saß ein Knecht auf dem Boden, neben sich einen umgekippten Eimer. Er hielt sich den Bauch und stieß furchtbare Schreie aus. Keiner um ihn herum schien zu wissen, was zu tun war. Auch Alvin wusste es nicht. Er hatte nichts bei sich, keines seiner Mittel. Ob es helfen würde, wenn ihn jemand packte und auf seinen Bauch drückte? Einer der vielen Leuten hier sollte doch auf diesen Gedanken kommen, wenn dies sogar ihm, der wenig Ahnung hatte, naheliegend erschien. Er überlegte, ob er es selber tun sollte. Aber dann wäre er allen aufgefallen. Nein, das hätte seinem Auftrag geschadet.
Endlich. Jemand rannte los, packte den Knecht rücklings und presste ihm mehrmals die Hand auf den Bauch. Seine Schreie wurden lauter, die Leute starrten ihn entsetzt an. Bald schoss das Gemisch von Wasser und Schleim stoßweise aus ihm heraus und ergoss sich vor der Menge auf dem Steinboden. Einige wichen zurück. Der Knecht klappte zusammen, erbrach sich vollends und lag bald kräftig nach Atem ringend auf der Seite. Andere Helfer kamen hinzu und richteten ihn auf. Irritierte, angeekelte, verwunderte und faszinierte Gesichter schauten sich an, Ausrufe von Empörung und Bewunderung wechselten sich ab. Man redete von verfluchtem Wasser, von dem gestraften und begnadigten Knecht, von einem neuen Anschlag des Grafen, einem Wundertäter, von bösen Zeiten. Alvin hatte sich das Getümmel eine Weile angeschaut und dann beschlossen, wieder unterzutauchen und zwischen den Menschen hindurch zu verschwinden.
Heute ging es um etwas anderes, um etwas Größeres. Er selbst war gefordert und doch hatte er die Heilung nicht in der Hand. War er wirklich schon bereit dafür?
Der Wirt war sehr nervös. Man sah es im schaukelnden Lichtschein der Lampe. Immer wieder richtete er sein glänzendes Gesicht auf Alvin und jedes Mal wurde es flehender. Alvin schien es, als nähme die Angst in diesem Blick eine immer deutlichere und bedrohlichere Gestalt an. Sie schien alles von ihm zu fordern, brachte ihm aber erschreckend wenig Vertrauen entgegen. Alvin bemühte sich, an etwas anderes zu denken.
Es dauerte insgesamt eine halbe Stunde. Die Zeit, in der Alvin der elenden Frau auf dem Bett den Saft verabreichte, bis zu dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug und sich kurz darauf ein wonniger Schimmer über ihr Gesicht zog, schien sich endlos hinzuziehen. Hoffnung, Müdigkeit, Bangen, Zweifel und innere Kämpfe wechselten sich ab und Alvin sehnte sich sein eigenes Bett herbei. Es wäre einfacher gewesen, hinauszugehen und auf die Wirkung des Mittels zu warten. Doch der Wirt hatte ihn nicht gehen lassen. Je länger es dauerte, desto mehr hatte er auf Alvin eingeredet: dass sie einfach nicht sterben dürfe, dass sie alles sei, was er habe. Als der Wirt dann die ersten Regungen auf dem Gesicht seiner Frau wahrnahm, fing er an, sie unruhig zu streicheln, ihre Stirn zu berühren, ihre Hand zu halten, ihr immer wieder Mut zuzusprechen.
Alvin war erleichtert, als er spürte, wie das Fieber abfiel. Irgendwann antwortete sie ihrem Mann mit klaren Worten und ersten Regungen im Gesicht.
»Ihr solltet ihr das Gesicht waschen und sie neu einkleiden«, sagte er zum Wirt, als er sich zum Gehen erhob.
»Ich weiß nicht, wie ich Euch … mein Herr … Ihr seid … habt Dank, habt vielen Dank! Ihr wisst nicht, wie sehr Ihr mir damit …«
Alvin legte ihm nur die Hand auf die Schulter. »Ich bin müde.«
»Verstehe schon. Wartet, ich werde Euch begleiten. Ihr habt kein Licht. Kann ich noch etwas für Euch …? Ihr habt sicher Hunger. Bitte bedient Euch in der Küche. Heute ist alles frei für Euch und morgen auch.«
Alvin hatte keinen Hunger mehr. Er ging in seine Kammer zurück und schlief in kürzester Zeit ein.
Zwei Tage später konnte er die Wirtin mit einem Lächeln begrüßen, als er in die Wirtsstube hinunterkam. Nur ihre geröteten Augen ließen etwas von der Bedrohung der vorletzten Nacht ahnen. Eine Woche lang genoss Alvin ihre Gastfreundschaft in besonderer Weise.
Dann stellte er eines Morgens fest, dass die Wirtin wieder nicht da war.
8. Kapitel
Alsuna, Jahr 304 nach Stadtgründung
Er blinzelte in die Morgendämmerung, als er wieder zu sich kam. Die Nacht über musste er gefroren haben. Erst allmählich begannen die ersten Sonnenstrahlen seinen Körper
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