Der Schattensucher (German Edition)
größer werden sie … das hat gestern angefangen … und …« Er hörte auf zu reden. Alvin sah ihm in die Augen. Ein furchterfüllter Blick traf ihn. »Das ist doch nichts Schlimmes, oder?«
»Ich kann es Euch nicht sagen. Aber ich habe zwei Tage bei einem Arzt in dieser Stadt verbracht, um mit einigen Dingen vertraut zu werden. Vielleicht kann ich …«
»Ihr meint, Ihr wollt zu ihr …?«
Alvin bejahte. Doch er wartete auf die Zustimmung des Wirtes.
»Es ist doch sicher nichts Ernstes. Oder was meint Ihr?« Sein Gesicht wurde noch bleicher. »Und Ihr kennt Euch aus?«
»Noch nicht besonders gut.«
»Aber Ihr wisst vielleicht, wie man die Krankheit wegbekommt? Ein Mittel?«
»Dazu müsste ich Eure Frau sehen.«
Alvin sagte nichts weiter, sondern ging zu seiner Tasche und holte ein Fläschchen heraus. Es fiel ihm nicht mehr viel ein, womit er den Mann hätte beruhigen können. Er hatte nur das Mittel in diesem Fläschchen. Es musste reichen.
6. Kapitel
Alsuna, Jahr 304 nach Stadtgründung
Der Silberbrunnen war ein geeigneter Ort für Levins Treffen, da er nicht mehr benutzt wurde. Tief unten im Dunkeln stand irgendwo das modrige Wasser der letzten Regengüsse. Die Seilwinde war vor Jahren entfernt worden, das Dächlein darüber fehlte. Seit der Brunnen als verseucht galt, interessierte sich niemand mehr dafür. Eine Zeit lang hatte man noch gemutmaßt, ob jemand bewusst das Wasser vergiftet hatte. Aber man war zum Schluss gekommen, dass es mit dem Flusswasser zusammenhing. Der kleine Platz um den Brunnen herum war schon bald kein Treffpunkt mehr für die Anwohner. Mittlerweile war er größtenteils von Gesträuch überwuchert. Fast wirkte der von Hauswänden umgebene Ort wie eine kleine Wildnis inmitten der Stadt. Eine enge Gasse führte hierher und man musste von dem Brunnen wissen, wenn man ihn finden wollte.
Doch Levin verband auch wehmütige Erinnerungen mit diesem Ort. Hier hatte er sein erstes Mädchen getroffen. Sie war blond und die Tochter eines Handwerkers gewesen, der gerne mehr geworden wäre. Auf dem Marktplatz hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Er stahl für sie eine Perlenkette und hängte sie ihr heimlich um. Sie sah hinreißend aus, als sie sich verwundert umdrehte und niemanden vorfand. Immer wieder kam sie, und jedes Mal hatte er ein anderes Geschenk für sie.
Irgendwann spielte er ihr einen Zettel zu, auf dem stand, dass er sie am Silberbrunnen erwartete. Nicht, dass er geglaubt hätte, sie würde tatsächlich kommen. Doch die bloße Hoffnung darauf belebte ihn so sehr, dass er gar nicht anders konnte. Und sie kam wirklich. Sie saßen auf dem Baum und er erzählte ihr von seinen Erlebnissen. Irgendwann küssten sie sich sogar. Levin wusste, wo sie wohnte, und oft sah er der Familie heimlich durchs Fenster zu. Sie waren gut zueinander, der Vater streichelte der kleinen Schwester immer wieder die Wange. Oft wünschte sich Levin beim Abendessen zu ihnen an den Tisch. Doch stattdessen erlebte er eines Abends eine böse Überraschung: Sie sagte ihm beim Silberbrunnen, dass sie nicht mehr kommen werde und er sie für immer in Ruhe lassen solle – keine Erklärung, keine Entschuldigung. Sie verschwand im Dunkeln durch das enge Gässchen und Levin konnte nie wieder mit ihr reden. Später hatte er herausgefunden, dass der Vater diese Trennung von ihr verlangt hatte.
Seitdem waren ein paar Jahre vergangen und der Brunnen erinnerte ihn daran, dass es wichtig war, den anderen immer einen Schritt voraus zu sein. Lass dich nie darauf ein, wenn Menschen dich in Sicherheit wiegen , sagte er sich immerzu. Deshalb kannte er – obwohl es offenkundig nur diesen einen Zugang zum Brunnen gab – einen raschen Fluchtweg: Er musste nur über die niedrigen Äste den breiten Mammutbaum besteigen, über einen selbst gebauten Holzsteg balancieren und über die Mauer in den nächsten Hinterhof springen. Immer wieder hatte er diesen Weg geprüft und die Flucht geprobt. Niemand würde so schnell reagieren, niemand würde ahnen, dass gerade der Baum seine Absicherung war. Levin dachte bei seinen Vorkehrungen an den unwahrscheinlichen Fall, dass ihm eines Tages doch die städtischen Truppen auflauern könnten.
Er bog in die Gasse ein, das Messer am Gürtel hatte er nach vorne geschoben. Die Augen blieben verbunden, jedoch so, dass er durch das Tuch hindurch alles erkennen konnte. Es war wie immer. Der Geruch von Holz und Erde stieg ihm entgegen, je näher er dem Plätzchen kam. Der harte Boden unter seinen
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