Der Schattensucher (German Edition)
stecken musste.
Es war vielmehr diese ungewohnte Nacktheit, die er auf seinem Gesicht spürte, die ihn unruhig machte, die ihm das Gefühl gab, jede Flucht sei jetzt umsonst. Sie kannten sein Gesicht. Zwei Tage hatte er ohnmächtig vor ihnen gelegen und sie hatten ihn genau betrachtet. Sie wussten, wie der Schattensucher aussah, wie er roch und wie sein Körper gebaut war. Und das erschien ihm beängstigender als der tiefste Keller, in den er je vorgedrungen war.
Sicher, schon viele Menschen hatten sein Gesicht gesehen. Mehrmals hatte er jungen Damen so tief in die Augen geschaut, dass es nicht mehr schwer gewesen wäre, sie zu verführen. Es war nichts Neues, dass er gesehen wurde. Doch bisher hatte man immer nur den gesehen, in den er sich verkleidet hatte: den Gaukler, den Bürger, den Soldaten. Jetzt sah man ihn . Der armselige Kerl da drüben konnte in sein Gesicht schauen, so viel er wollte. Und er konnte davon weitererzählen, einem Freund, der es wiederum einem anderen sagte. Es würde bekannt werden, dass er fast schulterlange schwarze Haare hatte, eisblaue Augen in tiefen Höhlen, ausgeprägte Augenbrauen, einen dünnen Bart um die Mundpartie, eine schmale und doch muskulöse Figur. Sogar seine ersten Fältchen unter den Augen würde man kennen oder seine lederne, aber saubere Haut, seine schmalen kräftigen Finger. Man würde Bilder von ihm malen, sich Geschichten von ihm erzählen. Andere Geschichten als die geheimnisvollen, irrealen, die man sich bislang erzählt hatte. Sie würden einen wirklichen Menschen aus ihm machen.
Es war, als habe ihm jemand nicht nur die Binde aus dem Gesicht gerissen, sondern als würde ihm ein bergender Schleier abgenommen, der etwas Jungfräuliches und zugleich Mütterliches besaß.
O nein, das werden sie nicht tun!
Er nahm seine Kräfte zusammen, konzentrierte sich auf die Beine, die Gelenke, stützte sich mit den Händen am Boden ab und drückte sich hoch. Die Schmerzen unterlagen seinem Willen, bald war er oben. Er schwankte, aber er stand. Nadal war noch immer abgewandt. Levin hatte die Schritte schon abgezählt. Viereinhalb würde er brauchen. In seinem Kopf pochte es unerträglich, doch er achtete nicht darauf. Er sah nur den hageren, ahnungslosen Mann vor sich.
Leise waren seine Schritte, unhörbar, so wie er sie zu beherrschen gelernt hatte. Und auf einmal stand er hinter dem Mann. Als Nadal sich umdrehen wollte, hatte Levin ihm schon den Arm nach hinten gedreht, die Beine gepackt und ihn über die Brüstung gedrückt. Er zischte ihm ins Ohr: »Nun, seid Ihr immer noch so sicher?«
Nadal wurde die Kehle zugedrückt, nur ein jämmerliches Wimmern entwich seinem Mund. Levin hütete sich, daran etwas zu ändern. Er sah zur Straße hinunter und beobachtete die Menschen, die sich aneinander vorbeischoben. Alles wirkte so geregelt, so ahnungslos normal. Keiner schaute zu ihnen hoch. Sie wussten nicht, was sie verpassten. »Was sie wohl tun werden, wenn auf einmal ein schreiender Kerl zu ihnen heruntersegelt? Wahrscheinlich weichen sie erst einmal schockiert zurück und keiner traut sich, Euren leblosen Körper anzurühren. Ein paar schauen nach oben und merken, dass da niemand ist. Bald machen Geschichten vom unsichtbaren Fensterwerfer die Runde. So eine Geschichte gab es in der Stadt noch nie. Nun, was haltet Ihr davon?«
»Es wäre eine sehr kurze Geschichte«, tönte es hinter Levin. Eine große Hand griff in seinen Nacken, riss ihn von der Brüstung weg und schleuderte ihn zurück an die Wand. »Eines Tages würdet Ihr an den falschen Mann geraten. Nicht Ihr würdet ihn hinunterstoßen, sondern umgekehrt.«
Levin lag am Boden und schaute mit blutender Lippe auf. Er hatte schon an der Stimme erkannt, mit wem er es zu tun hatte. Der breite Mann vom Senatshaus hatte sein Grinsen nicht verloren.
»Ich schlage vor, Ihr bleibt bei den Dingen, die Ihr wirklich könnt«, sagte der Mann und schritt dabei selbstsicher um Levin herum. »Aber wenn Ihr das nicht wolltet, wärt Ihr ohnehin schon verschwunden.«
Zwei weitere Männer kamen auf den Balkon und stellten sich mit verschränkten Armen an der Tür auf. Einer hatte zwei vorstehende Schneidezähne.
Die Kopfschmerzen waren wieder schlimmer geworden. Levin musterte einen Mann nach dem anderen. Nadal rang noch immer nach Atem, in seinen bisher ausdruckslosen Augen blitzten erstmals Hass und Angst auf. Der Anführer wirkte weit weniger feindselig, als es die Situation vermuten ließ. Seine Züge waren entspannt und
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