Der Schattensucher (German Edition)
aufzuwärmen. Er trug nur ein dünnes weißes Gewand, das er nicht kannte.
Was für elende Kopfschmerzen! , schimpfte Levin lautlos und presste die Augen zusammen. Vorhin war es doch schon Mittag gewesen.
Er schüttelte sich, rieb sich das Gesicht und schlug die Augen wieder auf. Der Ausblick war gewaltig. Die Dächer der Stadt wurden von einem diesigen Licht beschienen, auf der rechten Seite erstreckte sich das mächtige Briangard. Er musste sich auf einem geräumigen Balkon befinden. Von der Straße unten drang Stimmengewirr zu ihm herauf. Schnell wurde ihm klar, dass er im östlichen Teil der Stadt war. Viele Dächer waren flach und die Straßen waren geometrisch angelegt. Den Geräuschen nach zu urteilen stand das Haus in einer Straße, in der reger Verkehr herrschte, vermutlich in einer Handwerkerstraße.
Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht allein war. An der Brüstung, einige Schritte von ihm entfernt, stand ein Mann mit dem Rücken zu ihm, ja, es war der Hagere. Er drehte sich um, als er hörte, dass Levin sich bewegte. Für einen Augenblick schoss Levin der Gedanke durch den Kopf, dass er schneller hätte reagieren müssen. Vielleicht hätte er sich unauffällig davonstehlen können. Doch er spürte, dass er noch schwach war und wie festgebunden an der Wand saß. Dabei gab es keine einzige Fessel an seinem Körper.
Sie glauben wohl, dass meine Neugierde mich zu Genüge fesselt. Ich fürchte, sie haben recht.
Als der Hagere ihn erblickte, huschte ein Schatten von Respekt über sein Gesicht – dann tat er wieder ganz unbeeindruckt. »Ist der Herr endlich aufgewacht?«
Levin blinzelte und sammelte seine Kräfte. Er wusste, dass er sie brauchen würde. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich Euch noch einmal sehe, wäre ich nicht aufgewacht.«
»Ihr solltet Eure Zunge hüten. Ihr wisst nicht, in welcher Lage Ihr seid.«
»Mächtig hungrig bin ich, das weiß ich.«
»Tatsächlich.«
»Ihr könnt mir sicher etwas zu essen bringen.«
Der Hagere schnaubte und ging zur Tür. »Das sollt Ihr haben.«
»Ihr geht und lasst mich hier allein?«
»Ihr werdet nicht fliehen.« Der Mann sagte das mit weniger Sicherheit, als er beabsichtigt hatte. Als er im Haus verschwunden war, versuchte Levin erneut, sich zu regen. Er wollte gern aufstehen und auf dem Balkon umhergehen, aber seine Muskeln gehorchten nicht. Sobald er sich ein kleines Stück erhob, durchfuhr ihn ein Schmerz, und sein Kopf schien beinahe zu platzen.
Nach einigen Minuten kam der Mann zurück. Er legte ein Holzbrett mit Brot, Käse und Schinken neben Levin auf den Boden. Aus einem Tonkrug roch es nach Bier.
»Das werdet Ihr brauchen«, sagte der Hagere und stellte sich wieder in sicherer Entfernung an die Brüstung. Levin wäre am liebsten über das Essen hergefallen. Aber er hielt sich zurück, griff nur langsam nach dem Brett und nahm einen Bissen nach dem anderen. Dabei glaubte er jeden einzelnen Geschmacksreiz zum ersten Mal wahrzunehmen. Die Bissen schienen sich in seinem Körper unmittelbar in neue Stärke zu verwandeln. Der Hagere tat, als nehme er keine Notiz von ihm.
»Wie lange war ich eigentlich weg?«, fragte Levin kauend.
»Zwei Tage, wenn Ihr es wissen wollt.«
»Und Ihr habt die ganze Zeit dabeigestanden?«
»Die meiste Zeit.«
»Wenn wir schon so viel Zeit miteinander verbracht haben, könnt Ihr mir nun auch gern Euren Namen verraten. Darius heißt Ihr ja wohl nicht.«
Der Mann schaute ihn widerwillig an, schien aber keinen Grund zu finden, seinen Namen zu verschweigen. »Nadal.«
»Also aus dem nordöstlichen Teil der Stadt, richtig?«
Nadal nickte kaum merklich und wandte sich demonstrativ der Stadt zu. »Macht Euch bereit. Der Anführer wird jeden Augenblick hier sein.«
»Dann habe ich noch etwas Zeit zu fliehen.«
»Dann ist das Euer Ende.«
Er drehte sich nicht zu Levin um. Levin spürte aber, wie sehr Nadal hoffte, mit seiner Vorhersage recht zu behalten. Wohl um sicherzugehen, schob er nach: »Ich bin nicht der Einzige, der Euer Gesicht kennt. Alle haben sie Euch gesehen. Und wir haben Einfluss. Es hätte ein Ende mit Eurer Tarnung.«
Weil Nadal es nicht sehen konnte, wagte Levin ein sorgenvolles Stirnrunzeln. Jetzt erst wurde ihm bewusst, weshalb er sich schon die ganze Zeit so unbehaglich fühlte. Es waren nicht die Kopfschmerzen, die unerbittlich weiterpochten. Dass Nadal von wir gesprochen hatte, störte Levin ebenso wenig. Er hatte von Anfang an geahnt, dass hinter diesem Auftraggeber eine größere Gruppe
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