Der Schattensucher (German Edition)
hinaufgeschwungen. An diesem Tag wurde ich erwachsen.«
Gereons Augen weiteten sich, er ließ die Armbrust sinken und ging zu Elena hinüber. Kraftlos, wie tot lag sie auf der Bank und atmete nur noch schwach. »Nicht ich werde es sein, der dieser Stadt ihren Vater wegnimmt. Nein, sie muss ihn selbst besiegen. Ihr Hass und ihr Eigenwille sind stark genug, diesen übermenschlichen Kraftakt in der Stunde ihres Todes zu vollbringen. Gleich bist du am Ziel, Mädchen. Schöpfe aus deiner Kraft!« Er hielt ihr die Armbrust hin, sie reagierte nicht. »Beschenke dich selbst mit deiner Rache!«
Elena öffnete die Augen. Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht lag in Gereons Schatten. Er nahm ihre Hand und schloss sie um den Griff der Armbrust. Dann ließ er sie los und betrachtete sie, wie sie mit letzter Kraft die Waffe auf Thanos richtete.
»Ja, Mädchen, du hast dich lange gequält und gewartet. Deine Geduld wird sich nun auszahlen. Du musst es tun, niemand kann es für dich tun. Du wirst die Erstgeborene einer neuen Stadt sein, einer Stadt, die aus sich selbst heraus lebt.«
Elena schaute zu Thanos, Thanos schaute zu ihr. Er sah nur ihre Augen, nicht die Waffe. Endlich waren sie geöffnet, endlich konnte er hineinschauen.
»Dein Körper wird nicht viel Kraft benötigen. Aber deine Seele muss so stark sein wie nie zuvor. Zeig, dass sie genügend Kraft gesammelt hat. Gib deinem kümmerlichen, wertlosen Leben einen Sinn.«
Blau waren ihre Augen. Ein helles, mit Grau durchmischtes Meerblau. Der Boden dieses Meeres war weit unten und es mochte eine Menge dort liegen, was sie schmerzte. Aber wie schön war doch alles andere. Wie kostbar war all das, was nicht als schwere Last auf dem Grund des Meeres lag. Thanos sah schwebende Perlen, bunt schimmernde Meerestiere, silberne Bänder. Angenehm kühl fühlte es sich an, aber nicht so, dass man fror. Eine Menge Licht fiel herein und ließ all die Kostbarkeiten sichtbar werden. Die Strahlen waren fast greifbar.
»Zeig uns, dass die ewigen Dinge nicht ewig bleiben müssen! Nur eine Fingerbewegung bist du entfernt.«
Über Elenas Augen zog sich eine glitzernde Schicht. Wie ein Spiegel sahen sie nun aus und Thanos konnte darin erkennen, was sein eigener Blick ihr sagte: Ich liebe dich, Elena, und immer wird es so bleiben.
Je länger er in diesen Spiegel schaute, umso mehr glitzerten seine eigenen Augen und wurden so zu einem Spiegel für Elena. Und während sie hineinblickte, fing sie an, den Finger zu krümmen. Die Muskeln regten sich in ihrem Arm und ihre Lippen pressten fauchend heraus: »Lügner!«
Alle Kraft ihres Körpers ging in den Arm über, sie streckte sich, sodass sie beinahe von der Bank fiel, stöhnte auf, drehte den Arm ein Stück nach rechts und drückte ab.
Der Pfeil war so schnell, dass man ihn nicht sehen konnte.
Von der Wucht ihres Schusses fiel sie erschöpft auf den Boden und ließ die Armbrust los.
Thanos lag mit reglosem Gesicht am Boden. Er beobachtete, wie Gereon den Blick senkte und entgeistert auf den Pfeil in seiner Brust starrte. Sein Mund bewegte sich, gab aber keinen Ton von sich. Er versuchte stehenzubleiben, schaffte es eine Weile, dann fiel er auf die Knie und schließlich mit dem Gesicht voraus in die Wasserlache.
Thanos hörte das friedliche Rauschen des Wassers. Ja, es war ein besonderer Tag. Und doch hatten sich die eigentlichen Dinge nicht verändert. Als er erschöpft den Kopf zurücklegte und den Wasserpegel an seinen Ohren spürte, stellte er sich vor, wie das Gewölbe über ihm angehoben wurde. Es wuchs in die Höhe und verwandelte sich in einen blauen Himmel. Schön war das.
Morgen, da würde er wieder auf den Turm steigen, nahm er sich vor. Und er würde bald wieder ein Festessen geben. Er überlegte, wen er alles einladen würde. Vermutlich reichte sein Gemach nicht aus.
Während er nachdachte, war das Wasser fast bis zu seinem Gesicht hinaufgewandert. Immerzu erklang das Rauschen im Hintergrund. Ein bisschen kalt war es ihm.
Er wusste nicht, ob er die Augen geschlossen oder geöffnet hatte. Er wusste nur, dass er etwas sah. Da oben bewegte sich etwas. War es an der Treppe? Es mussten Menschen sein. Er drehte den Kopf ein wenig. Männer in Rüstungen. Es waren die Rüstungen der Stadtwachen.
Levin hatte ständig Jasons Rücken gesehen. Sie waren ihm gefolgt, während er mit sicherem Schritt durch die Gänge und Räume marschiert war, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Levin war in der Mitte gewesen, sodass er ihnen nicht entwischen
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