Der Schattensucher (German Edition)
seiner Herrschaft über Alsuna zu entheben und ihn gänzlich nach Briangard zu verbannen. Vom Jahr 292 an war es jedem Brianer verboten, die Stadt zu betreten, ebenso wie jeder Alsuner aus Briangard ausgeschlossen wurde. Die Festung wurde ausgebaut, die brianische Wache mit zahlreichen Soldaten aufgerüstet.
Eine Stadt mit zwei Reichen lag nun am Fuß des Reimutgebirges. Und sie wussten fast nichts mehr voneinander. Außer gelegentlichen diplomatischen Treffen und landwirtschaftlichen Lieferungen gab es keine Berührungspunkte mehr. Die Seuche indes war geblieben und quälte Alsuna mehr als jede Missernte der Vergangenheit. Die Zahl der Ärzte hatte sich seit ihrem Ausbruch verdoppelt, auch die Zahl der vermeintlich wirksamen Gegenmittel war nicht mehr zu überschauen. Doch niemand wurde dieser Seuche Herr. Vermutlich hatte man ihr deshalb nie einen Namen gegeben, um nicht zu häufig an ihre Allmacht erinnert zu werden.
All das wusste Levin und er war stets zufrieden gewesen. Solange die Seuche herrschte, gab es Streit zwischen den Häusern, zwischen den Ständen, sogar innerhalb von Familien: Wer hatte wen angesteckt? Wer hatte verseuchtes Wasser herbeigebracht? Es gab nichts Besseres als einen solch verwirrten, zerstrittenen Ort, um als Dieb arbeiten zu können. Und so hatte Levin, sofern er sich überhaupt Gedanken über die Politik machte, stets den Wunsch gehabt, dass Alsuna das bleiben möge, was es in den letzten Jahren gewesen war. An Briangard hatte er nie einen Gedanken verschwendet.
»Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Darius, »was seit den Anfängen das Ziel des Grafen ist: Er will nicht nur zu dieser Stadt gehören, er will sie besitzen. Es genügt ihm nicht, dass er das symbolische Haupt von Alsuna ist. Er möchte wieder herrschen. Und das kann er nur dann, wenn er die Stadt so sehr geschwächt hat, dass sie seiner Macht nicht standhalten kann.«
»Macht? Von welcher Macht sprecht Ihr? Unsterblichkeit ist noch keine Macht.«
»Da täuscht Ihr Euch. Ihr wisst, wie viele Menschen in Alsuna sich ihm immer noch verpflichtet fühlen. Ihr kennt den Orden der Redlichkeit , die Gemeinschaft der Wartenden , die Gemeinschaft des Meskanbundes . Sie alle sind nur die äußersten Erscheinungen. Die Unsterblichkeit des Grafen hat noch viele Einwohner der Stadt im Griff. Sie sind bereit, wieder zu einem Tyrannen zurückzukehren, wenn er nur die Aura der Unsterblichkeit trägt.«
»Die Menschen wissen, dass der Graf ihnen die Seuche gebracht hat.«
»Sie werden es vergessen, wenn sie nur einen Funken seines Glanzes wiedersehen. Jahre hat er gewartet, damit Alsuna sich in seinem Leid selbst schwächt, uneins wird und sich nicht mehr wehren kann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Und glaubt mir: Sehr weit ist dieser Zeitpunkt nicht entfernt.«
»Wer seid Ihr?«, fragte Levin nun und sah Darius so tief in die Augen wie nie zuvor.
»Nun, das ist schwer zu beantworten. Wir sind mehr, als Ihr gerade seht. In allen Teilen der Stadt sind unsere Leute. Aber hier seid Ihr am wichtigsten Ort. Hier findet alles zusammen und von hier geht alles aus.«
»Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.«
»Ich bin die Person, bei der alles zusammenläuft. Ohne mein Wissen geschieht nichts. Aber jeder Einzelne trägt einen wichtigen Teil bei.«
Levins Blick wurde ungeduldiger.
»Es ist gut, dass Ihr noch nichts vom Otusnetz gehört habt. Wir beabsichtigen nicht, dass man uns kennt. Lasst es mich so sagen: Die Stadtwache ist der sichtbare, wir sind der unsichtbare Teil. Aber beide haben wir die Aufgabe, Alsuna zu beschützen.«
Mit bedrohlich flammendem Blick stieß Levin zischend hervor: »Passt mal genau auf! Ich habe Euren Verschwörungsgeschichten lange genug zugehört und ich habe immer noch keine Ahnung, was Ihr eigentlich wollt. Aber ich rate Euch, mir ein paar anständige Kleider zu geben, mich auf der Stelle verschwinden zu lassen und für alle Zeiten zu vergessen, ebenso wie ich es mit Euch tun werde.«
Darius schaute ihn mit unverändert ernstem Gesicht an.
Levin erkannte, dass dieser Mann sich nicht von seinem Vorhaben abbringen ließ.
»Das ist Eure Sache. Ihr seid frei zu gehen. Aber vergesst nicht, welche Folgen das für Euer weiteres Leben haben wird. Nichts mehr werdet Ihr so tun können wie bisher.«
»Ist das wieder eine Eurer leeren Drohungen?«
Jetzt meldete sich der Mann zu Wort, den Darius als Sandrin vorgestellt hatte. »Ihr habt keine Ahnung, was wir alles von Euch wissen. Seit Monaten sind wir
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