Der Schattensucher (German Edition)
Flussufer, direkt vor der Anhöhe. Die Stilla lief an der Westseite von Briangard entlang. Wären die Wasserfluten aufgrund des Hanges nicht so reißend gewesen, hätte man sie für eine Art Burggraben halten können. Die Besonderheit lag darin, dass an der Stelle, wo die Burg sich ans Gebirge anlehnte, der Fluss unter dem Gemäuer hindurchfloss. Die Halle, in der der Graf das Meskan verarbeiten ließ, lag somit über dem Fluss. Levin wusste jedoch, dass es unmöglich war, durch den Tunnel in die Halle zu gelangen. Das Ufer war an dieser Stelle zu steil, das Wasser zu tief und die Strömung zu stark. Sein Weg in die Burg konnte also nur über die felsige Anhöhe und die anschließende Außenmauer hineinführen.
Er sah gut achtzig Meter nach oben, wo die Mauerzinnen verliefen. Ein Wachposten richtete den Blick Richtung Stadt, dann zum Fluss. Gelangweilt wandte er sich wieder ab und wanderte weiter. Levin holte ein Fläschchen aus dem Beutel und goss den Inhalt über seine Kleider. Er verzog das Gesicht bei dem furchtbaren Gestank. Dann stand er auf, huschte zu den Felsen und stieg die ersten Steine hinauf. An den meisten Stellen um die Festung herum war die Anhöhe zu steil. Hier aber gab es zumindest so viele Felsvorsprünge, dass er den größten Teil des Weges ohne Probleme bewältigen konnte. Immer wieder schaute er nach oben, um innezuhalten, falls eine Wache in die Nähe kam. Wenn er sich nicht bewegte, würde man ihn mit seinem grauen Mantel zwischen den Felsen nicht bemerken.
Bald hatte er den Fuß der Mauer erreicht. Die glatte Steinwand wuchs fast übergangslos aus den Felsen heraus. Er musste sich mit den Händen abstützen, als er sich in Richtung Südtor arbeitete. Bald hatte er sein Ziel erreicht. Er stand auf dem obersten Felsvorsprung der Anhöhe, über ihm war die geschlossene Zugbrücke. Es war die einzige Stelle, die von oben nicht unmittelbar beobachtet werden konnte. Das Tor bestand aus zwei runden Türmen, zwischen denen die Zugbrücke eingebettet war. Darüber gab es ein Häuschen, das so weit aus der Festung hinausragte, dass man die Brücke durch das Fenster nicht mehr sehen konnte.
Gestern war er schon hier gewesen. Am Mittag war er die Schlucht unterhalb der geöffneten Zugbrücke hinaufgeklettert. Während über ihm die Soldaten auf und ab schritten, hatte er sich unter der Brücke versteckt gehalten und so leise er konnte gearbeitet.
Zufrieden sah er jetzt, dass sein Werk nicht entdeckt worden war: eine Strickleiter, die ihn das Tor hinaufführen würde. Niemals hätte er eine Mauer mit fünfundzwanzig Metern Höhe anders besteigen können. Er griff nach der Leiter und mit festen Tritten gelangte er zügig bis zum oberen Rand des Tors. Jetzt konnte er nach dem Efeu greifen, der aus dem Inneren der Festung emporwuchs und sich um den linken Turm wand. Er stieg hinüber und stellte fest, dass die Ranken stabil genug waren, um sein Gewicht zu tragen. Es waren nur drei Meter zu überqueren. Dann erreichte er das Spitzdach des Turmes und zog sich hoch. Er duckte sich und beobachtete den Wehrgang, der unterhalb des Turms begann.
Eine Weile wartete er. Bald kam ein Wächter herbei, blieb vor dem Turm stehen und schaute in die Stadt hinunter. Sein Wachhund schnüffelte nur kurz in Levins Richtung, hob den Kopf und folgte seinem Herrn, der wieder davonzog. Levin, der wusste, aus welchem Leder die Rüstungen der Wächter auf Briangard hergestellt wurden, hatte sich beim Gerber einen Saft aus eben jenem Leder brauen lassen. Der Geruch würde das Vertrauen der Hunde wecken, wenn sie in seine Nähe kamen. Selbst die Hunde, die klügsten Wächter dieser Stadt, konnte er täuschen.
Nie zuvor hatte er einen solch feinen Plan entwickelt. An jedes Detail hatte er gedacht. Vielleicht waren die Brianer weitaus besser ausgerüstet und aufmerksamer als die lächerlichen Stadtwachen. Vielleicht waren die Hindernisse an diesem Ort größer als je zuvor. Doch nichts hielt der Methode stand, die Levin als die überlegenste betrachtete: das Opfer nicht wissen zu lassen, dass es überhaupt einen Gegner hatte. Für Levin waren sie alle Opfer, die Stadtwachen genauso wie die bulligen Brianer mit ihren Wachhunden.
Sein restlicher Plan würde so gut funktionieren wie alles andere: Eine kleine Ablenkung würde ihre Aufmerksamkeit nach unten richten, während er über das Seil den höchsten Punkt von Briangard bestieg: den Hauptturm. Wer würde es schon für möglich halten, dass im bestbewachten Palast von Baldurien
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