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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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fragten ihn, wo er herkam. Es fiel ihm nicht leicht, seine Geschichte zu erzählen. Nicht, weil er sich schämte, sondern weil ihm nicht danach war. Eigentlich hatte er nichts zu erzählen, stellte er manchmal fest. Und so zog er es vor, sich die Geschichten der anderen anzuhören.
    »Keiner von uns ist freiwillig hier«, sagte ihm ein älterer Mann. »Aber du lernst bald, das Gefühl zu vertreiben, dass es was Besseres geben könnte. Je seltener du dieses Viertel verlässt, umso leichter wird’s dir fallen.«
    Das hätte sich Alvin gerne aufgeschrieben. Doch seine Feder und das frische Papier waren im Gasthaus zurückgeblieben. Er musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass es nun mit dem Beobachten und Notieren vorbei war.

12. Kapitel
    Alsuna, Jahr 304 nach Stadtgründung
    Als Levin an einer ruhigen Stelle aus dem Fluss kroch, wusste er nicht, ob er seinen linken Arm noch besaß. Es fühlte sich an, als sei er am Hauptturm von Briangard zerschellt. Lange blieb er kraftlos am Ufer liegen, die Kälte an seinem nassen Körper empfand er als beiläufiges Übel.
    Später fing er langsam an, wieder erste Bewegungen zu machen, kam auf die Beine und spürte, dass er seinen Arm kaum rühren konnte. Er schleppte sich ins nördliche Bürgerviertel und weiter ins Arbeiterviertel. Er zog sich in seinen Keller im verlassenen Haus zurück und es war ihm egal, dass die Männer vom Otusnetz diesen Ort kannten. Die letzten Lumpen wollte er nun tragen und wie ein Bergarbeiter aussehen, der eben aus der Mine gekrochen war. Kurz darauf erschien er in entsprechender Kluft auf der Straße und suchte mit leicht schwankendem Schritt die Wanne auf, das beliebteste Gasthaus im Arbeiterviertel.
    Es stank nach Schweiß und Alkohol, als er die Stube betrat. An den Tischen erzählten sich die Leute schmutzige Witze und schnitten sich mit einem stumpfen Messer Stücke vom letzten Rest des gebratenen Schweins ab. Sie hatten den letzten Werktag hinter sich, deshalb saßen sie jetzt nach Mitternacht noch da. Niemand beachtete Levin, als er den Raum durchquerte und in der hintersten Ecke Platz nahm, wo er allein war. Auch wenn er keinen Tropfen getrunken hatte, mussten sein Gang und seine brennenden Augen den Eindruck erwecken, er sei angetrunken. Genau das sollten die Menschen denken, denn so konnte er den Schrecken, die Hilflosigkeit und auch die Schmerzen in der Schulter verbergen, die eigentlich schuld an seinem Dämmerzustand waren.
    Er ließ sich einen Krug Wein bringen, redete kaum ein Wort und wenn, dann beschränkte er sich auf ein unverständliches Brummeln. Normalerweise spielte er nur den Betrunkenen, heute sollte es wenigstens ein bisschen echt sein.
    Allmählich wanderte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, was in dieser Nacht geschehen war. Das Gefühl, mit einem Mal alle Freiheit verloren zu haben, die ihn sein Leben lang begleitet hatte, war neu und grausam. Er war gesehen worden. Er und der beste Plan seines Lebens waren aufgeflogen. Noch dachte Levin nicht über die Folgen nach. Er fragte sich nicht, wie die nächsten Tage ablaufen sollten. Es reichte, daran zu denken, dass er eigentlich um diese Zeit im Palast umherschleichen und das Bett des Grafen beobachten wollte. Jeder Schluck des schlechten Weins erinnerte ihn daran, dass die Allmacht des Schattensuchers an den Grenzen von Alsuna ihr Ende gefunden hatte. Das war die enttäuschendste Erkenntnis, die er seit langer Zeit gehabt hatte.
    Es musste in einem Moment gewesen sein, als er die Augen geschlossen hatte oder in seinen Becher schaute. Jedenfalls hatte er nicht gemerkt, wie die Tür sich öffnete und eine Gruppe von Frauen den Raum betrat. Levin nahm sie erst wahr, als er das laute Gejohle vernahm und zu den Tischen hinübersah. Sie saßen bereits auf dem Schoß von Männern oder ließen sich von ihnen umwerben. Er wollte sich gerade desinteressiert abwenden, da sah er, dass sich eine von ihnen davongestohlen hatte.
    Sie kam auf ihn zu. Augenblicklich verschwand die schummrige Wolke von seinem Gemüt, die er sich eben angetrunken hatte. Seine Alarmbereitschaft existierte noch und sie schien stärker zu sein als der Wunsch, zum ersten Mal in seinem Leben in der Ohnmacht zu versinken.
    Sie hat mich angeschaut, nein, angefunkelt. Sie weiß genau, dass sie zu mir will. Sehe ich aus, als hätte ich etwas für sie?
    Jetzt, wo sie nahe genug war, nahm er ihre Gestalt genauer in Augenschein. Zuerst fiel ihm auf, dass sie ihre pechschwarzen Haare mit Holzstiften hochgesteckt hatte.

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