Der Schattensucher (German Edition)
ich mich ganz in der Arbeit.«
»Kein Problem.« Levin war noch immer mit den Erinnerungen an die Nacht seines Ausbruchs beschäftigt. Ohne diese Alarmglocke wäre Norman noch am Leben! , war der Satz, der sich unentwegt wiederholte. Er musste kämpfen, um die Bilder in seinem Kopf zu verdrängen.
»Manchmal packt es mich«, sagte Thanos, während er zwei Flüssigkeiten zusammenschüttete. Eine davon kochte und ein milder Dampf stieg aus dem Glas empor. »Da kommen mir auf einmal neue Gedanken und dann ich stelle mich hin und arbeite so lange, bis ich sie umgesetzt habe.«
Eher beiläufig, um die Stille zu vermeiden, fragte Levin: »Was braust du da?«
»Nichts Gezieltes. Ich habe ein paar neue Pflanzen entdeckt und will wissen, wie sie reagieren. Dieses Gebirge ist wahrlich ein Ort unendlicher Überraschungen.«
»Und was machst du damit?«
»Abwarten. Zunächst geht es mir nur um die Erkenntnisse.« Er schaute endlich zu Levin auf. »Seit vielen Jahren mache ich diese Untersuchungen. Wenn ich mich jedes Mal fragen würde, was ich damit anfangen soll, hätte ich wohl schon bald aufgeben müssen.«
»Dann suchst du also etwas Bestimmtes?« Allmählich wachte Levin auf.
»So könnte man es sagen, ja. Es ist kein Geheimnis: Ich suche eine Pflanze, die eine bestimmte Wirkung hat. Im Grunde genommen muss sie ein Wunder vollbringen und eigentlich besteht nicht die Aussicht, dass es diese Pflanze gibt.«
Levin schaute ihn befremdet an.
Thanos wurde schwermütig. »Ich weiß, das klingt absurd. Aber manchmal muss man sich auch an die letzte Hoffnung klammern, die einem bleibt. Du kennst doch dieses Gefühl, dass alles vollkommen wäre, wenn du nur noch diese eine kleine Sache hättest, diese eine Sache, die so schwer zu bekommen ist.«
»Vielleicht kenne ich das«, sagte Levin viel unbeteiligter, als sein Herz es fühlte.
»Und am schwierigsten ist es dann, wenn es nicht in der eigenen Hand liegt, diese Sache zu bekommen, sondern wenn du das Gefühl hast, auf etwas anderes angewiesen zu sein, etwas, was du nicht beeinflussen kannst.«
»Was hat das mit deinen Pflanzen zu tun?«
Thanos lachte. »Nichts. Ich spreche viel allgemeiner. Du kennst mich doch. Ich lande immerzu bei den großen Fragen des Lebens.«
Es hatte jetzt keinen Sinn, mit Thanos zu philosophieren. Natürlich kannte Levin das Gefühl, von dem er sprach, auch wenn er es in der Regel verleugnete. Meist stellte er sich zufrieden, indem er sagte: Wenn ich nicht dieses Gefühl in mir hätte, dass noch etwas fehlt, würde mir jeder Antrieb fehlen. Völlige Zufriedenheit wäre der Tod.
Diese Erklärung reichte meist, um einschlafen zu können und sich auf den nächsten Raubzug zu freuen. Doch in seinen wenigen ehrlichen Momenten gestand er sich ein, dass sein Leben sich als überflüssig erweisen würde, wenn er eines Tages von der Bildfläche verschwand. So war es nun einmal, sagte er sich dann. Besser, als sich von irgendwem etwas geben zu lassen, was die armseligen Wesen in der Stadt »Sinn« nannten. Gefangen waren sie, nichts als gefangen. Er war frei.
»Etwas bedrückt siehst du heute aus«, sagte Thanos.
»Wie kommst du darauf?«
»Nun ja, nicht unbedingt bedrückt. Vielleicht eher nachdenklich, beschäftigt. So als würdest du mit etwas nicht fertig.«
»Ach, da weißt du mehr als ich«, lenkte er ab.
Thanos hielt einen Becher hoch, musterte die Flüssigkeit, als habe er das Gespräch schon wieder hinter sich gelassen, und sagte dann: »Es muss wahnsinnig auf der Seele drücken, sich für den Tod eines Hauptmanns verantwortlich zu fühlen.«
Levin erbleichte. Zumindest hatte er das Gefühl. Wie konnte Thanos so etwas sagen? »Wie meinst du das?«
»Schau dich doch an. Du läufst seit drei Tagen missmutig durch den Palast, trägst deine Waffen, als hättest du sie nicht verdient, und während die anderen ernsthaft trauern, grübelst du. Das tut nur jemand, der einen Grund sucht, warum er vielleicht doch nicht schuldig ist. Und dabei gerät er immer tiefer in die Überzeugung, wie groß seine Schuld ist.«
»Pah, welche Vorwürfe sollte ich mir schon machen? Ich lag in der Nacht krank zu Hause.«
»Eben das ist es. Kann es sein, dass du dir vorstellst, wie es gewesen wäre, wenn du dich trotzdem hinausgeschleppt hättest, als der Alarm ausbrach? Vielleicht hättest du den Einbrecher erwischt, denn jeder hier weiß, dass du von allen Wachen den besten Spürsinn hast. Alles wäre ganz anders gekommen.«
Levin setzte sich auf einen Tisch
Weitere Kostenlose Bücher