Der Schattensucher (German Edition)
Schulter hast, wirst du ihn für immer tragen. Du wirst an diesen Ort gebunden sein.«
Levins Knie fingen an zu zittern. Er war weiter, viel weiter geraten, als er hatte gehen wollen. Er hatte nicht mehr gewollt, als seine Freiheit zurückzuerobern. Es war nur ein Spiel gewesen. Aber konnte er es noch gewinnen, wenn er jetzt ablehnte? Riskierte er nicht das ganze Vertrauen, das er sich mühevoll erworben hatte?
Er stellte sich vor, wie es sein würde, als Hauptmann durch das Haus zu gehen. Mit »Hauptmann Linus« würden sie ihn ansprechen, keiner würde ihn noch als den fremden Alsuner betrachten. Das hatte seinen Reiz. Sicher würde er noch eine ganze Weile diese Rolle spielen können, ohne dass ihn jemand entlarvte. Jederzeit konnte er hier bei Thanos sein, dessen Gegenwart ihn – das musste er sich eingestehen – magisch anzog. Wenn Thanos so weitermachte, verriet er Levin bald jedes Geheimnis, das noch verblieb. Er würde alle Informationen bekommen, die er brauchte, und dann konnte er rechtzeitig verschwinden. Also war es eigentlich immer noch das alte Spiel. Was war schon der Bussard auf seinem Arm? Wenn er nötig war, um seine Freiheit zu retten, dann sollten sie ihn seinetwegen auf Levins Schulter brennen.
»Darf ich dir noch eine Frage stellen, ehe ich dir eine Antwort gebe?«
»Ja.«
»Du kennst mich nicht. Hast du keine Angst, enttäuscht zu werden?«
»Nein, Angst habe ich nicht.« Er schluckte, seine Augen wurden feucht. »Aber ich bin mir über das schreckliche Angesicht der Enttäuschung bewusst. In jedem Augenblick. Und ich wünsche mir, ihm nie wieder begegnen zu müssen.«
»Verstehe«, sagte Levin. Er musste sich die Leichtfüßigkeit seiner Worte hart erkämpfen. »Ich habe es mir überlegt. Mach mich zu deinem Hauptmann.«
Thanos lächelte nicht wie erwartet, sondern ging auf Levin zu, nickte und schloss ihn in die kraftvollste Umarmung, die er je erlebt hatte.
30. Kapitel
Alsuna, Jahr 296 nach Stadtgründung
Sein Weg zurück zur Schmiede führte Alvin durch eine Verkäufergasse und über die Hauptstraße. Immer wieder befühlte er seine Tasche, in der das Gefäß steckte. Brauchte er es wirklich? Gab es keinen anderen Weg? Sooft er darüber nachgrübelte, sah er doch nur diese Möglichkeit. Eigentlich hatte er – tief in seinem Innern – immer gewusst, dass es so war. Alles, was er bisher versucht hatte, war nur zu dem Zweck gewesen, sich die unausweichliche Wahrheit klar vor Augen zu führen.
Immer wenn er über das Schreckliche nachdachte, das ihn erwartete, rief er sich sogleich die Belohnung ins Bewusstsein. Ja, es gab eine Menge, auf das er sich freuen konnte; und das reichte, um für alles bereit zu sein.
Mehr als sonst sog er die Gerüche der Obst- und Gewürzstände auf. Oft störte es ihn, wenn viele Menschen sich um ihn drängten. Heute genoss er es. Sie schoben sich aneinander vorbei, berührten sich gegenseitig an den Gewändern, manchmal drückten sie den anderen beiseite. Er war mittendrin und es war schön. Es waren Menschen und sie lebten. Alle hatten sie eine Geschichte, Erfahrungen, Wünsche, Ziele. Wenn er sie berührte, war er Teil ihrer Geschichte. Was konnte sich schöner anfühlen?
Er kaufte nichts, aber er schnupperte an einem Dutzend Früchte, Brote und Käsestücke. Sein Weg durch die Verkaufsstraße dauerte dreimal länger als sonst. Als er das Ende erreicht hatte und die Hauptstraße überquerte, griff er wieder nach dem Fläschchen in seiner Tasche – es war sein Schicksal, das ihn begleitete.
Es war weg.
Er fühlte noch einmal, zweimal, doch es war weg. Er öffnete die Tasche, schaute hinein, wühlte darin herum, drehte sich um und schaute die Straße entlang – nichts.
Warum musste ich auch durch diese volle Straße gehen? , warf er sich vor. Ausgerechnet dann, wenn ich so etwas Wichtiges bei mir habe.
Er fing an zu schwitzen und machte sich auf den Weg zurück. Doch er gönnte sich wenig Hoffnung, das Gefäß in diesem Getümmel wiederzufinden. Was wohl derjenige damit machte, der es fand? Er wollte eben in die Menge eintauchen, da hörte er einen Pfiff. Er glaubte nicht, dass er ihm galt, doch der Pfiff wiederholte sich und dann hörte er die Stimme: »Hey, Rotschopf!«
Verwirrt schaute er in alle Richtungen.
»Rotschopf!«
Die Stimme kam von oben. Alvin erblickte einen dunkelhaarigen Jungen, kaum älter als vierzehn Jahre, der auf einem Vordach saß und die Füße baumeln ließ.
»Was ist?«, fragte Alvin.
»Ist dir was
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