Der Schattensucher (German Edition)
haben?«
»Ich denke schon. Was ist so schlecht daran, ein Brianer zu sein?« Er drehte sich um und schaute sie an. Sie schloss das Fläschchen mit der Salbe.
»Nichts ist schlecht daran. Aber ist es das, was du wolltest?«
»Es ist … nicht unbedingt das, was ich wollte. Aber es lag nun einmal auf dem Weg zu meinem Ziel.«
»Verstehe.« Sie näherte sich ihm. Eine unvorstellbare Last schien sie zu beschweren, alle Leichtigkeit und Frechheit der letzten Zeit waren verschwunden. Vorgestern noch hatte sie ihn spät abends angestoßen und gesagt: »Willst du mit?« Sie waren nach draußen gegangen, über den Hof und zum Kornspeicher. Sie kannte den Weg zum Dach hinauf. Oben hatten sie dann gesessen und in die Stadt und in den Himmel geblickt. »Man muss weit oben sein, wenn man einmal alles vergessen will.« Fast die halbe Nacht hatten sie geredet. Er hatte ein paar Mal bemerkt, wie sich beim Reden entzückende Grübchen auf ihren Wangen formten. Sie lockten Worte aus ihm hervor, für die er sich tagsüber geschämt hätte.
Da philosophierte er tatsächlich über die Sterne und die Dächer: dass sie ihm alle gehörten und er sich doch heimlich wünschte, fest unter einem von ihnen zu wohnen. Und wenn sie ihn mit leuchtenden Augen ansah und ihre Grübchen sich formten, frohlockte etwas in ihm. Diese Grübchen suchte er heute vergeblich.
»Levin, du musst tun, was du für richtig hältst. Aber achte darauf, dass du nicht dich selbst verlierst.«
»Geht es dir wirklich um mich oder hast du deinetwegen Angst?«
Sie schaute weg. »Manchmal sind diese Dinge nah beieinander. Und es hängen andere Dinge daran, von denen man nichts ahnt.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich habe alles im Griff.«
Elena streichelte seine Wange und das Brandmal auf seiner Schulter. Kurz zuckte Levin zusammen.
»Du musst dich jetzt ausruhen«, sagte sie.
Er schlief zehn Stunden, wachte auf, versuchte durch Bewegungen den Schmerz zu vertreiben und legte sich nach wenigen Stunden wieder schlafen. Nach zwei Tagen hatte er das Gefühl, dass er bereit war.
Seine Einsetzung zum Hauptmann geschah auf dem Vorhof. Vor den Bürgern von Briangard schworen alle Mitglieder der Palastwache ihm durch eine förmliche Umarmung Gehorsam. Zuletzt reichte ihm Jason die Hand und sprach die Formel: »Unser Leben für das Wohl des Erbauers.« Levin wiederholte die Formel und achtete auf Jasons Augen. Sie waren wach und leidenschaftlich verachtend.
Doch dank Thanos’ Bemerkungen im Hinterkopf sah er noch andere Dinge: Verwirrung, Neid und Selbstanklage. So unpassend ihm diese Mischung erschien, so machtvoll gebündelt wirkte sie in diesem Moment, als Jason ihm fest die Hand drückte.
Alles geschah unter den Augen des Grafen, der auf einer Erhöhung saß und immer wieder in die vorderste Menschenreihe schaute. Elena stand dort, geschickt in ein festliches Kleid gehüllt, ein buntes Tuch kunstvoll um den Kopf gewickelt und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Sie mied jeden Blickkontakt mit dem Grafen, sosehr dieser ihn auch suchte.
Levin stellte sich neben sie, als Thanos aufstand und die Menge in seinen Blick nahm. Verwundert schauten sich einige an, war es doch das erste Mal, dass er sich zum Reden erhob.
»Meine lieben Söhne und Töchter. Ihr erlebt an diesem Tag, dass etwas Gewöhnliches höchst ungewöhnlich sein kann. Es ist im Sinne unserer Ordnung, dass die höchste Aufgabe innerhalb dieser Mauern einem Brianer zufällt. Nichts anderes ist heute geschehen. Und doch ist es für viele von euch ein Schock. War nicht dieser Mann eben noch ein Fremder für euch? Gehörte er nicht einer Welt an, die der unseren feind ist? Ja, so ist es. Und doch scheint mir dieser Mann weniger fremd als mancher, der schon sein Leben lang das Abzeichen des Bussards trägt.
Ihr habt es nicht glauben wollen, obwohl ich es euch gesagt habe: Es werden Dinge geschehen, die euch in euren Gewohnheiten herausfordern. Ihr werdet nicht so weiterleben können, wie ihr es die letzten Jahre getan habt. Und wisst ihr, warum ihr es nicht tun könnt? – Weil es euch in die Starre führen würde. Ihr glaubt, es sei eine Ordnung. In Wahrheit ist es das Gegenteil. Dieser Ort war niemals dazu bestimmt, in Erstarrung zu verenden. Er ist dazu bestimmt, die Ordnung zurückzuerobern, die vor langer Zeit verloren ging. Was heute geschehen ist, ist ein Schritt auf diesem Weg.
Meine lieben Söhne und Töchter, ein weiteres Mal fordere ich euch heraus, diesen Weg mit mir zu gehen. Ein
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