Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
zwei Matrosen: eine Frau mit roten Locken und einer Hakennase, an der ein silberner Ring hing. Aulin war ihr Name. Kriss kannte sie vom Sehen. Sie war ihr bisher immer wortkarg und ernst erschienen. Aber nie so ernst wie jetzt.
Der sechste im Bunde war Grimald, ein Mann so fett wie ein Donnerwal. Eine Klinge hatte seinen rechten Mundwinkel aufgeschlitzt und die Narbe verzog seinen Mund zu einem hässlichen Halbgrinsen. Kriss beobachtete, wie er heimlich einen Schluck aus einem Flachmann nahm, nachdem er seine Muskete überprüft hatte. Als er ihren Blick bemerkte, prostete er ihr ungeniert zu. Sie fühlte das Bisschen Zuversicht, das sie sich mühevoll zusammengesammelt hatte, wieder schwinden.
Lorgis schulterte eine Tasche mit Proviant. »Gehen wir«, sagte er.
Schnarrend, grunzend, quietschend und gackernd empfing sie der Wald. Sonnenstrahlen schnitten als kalte, gelbe Klingen durch das Blätterdach und beleuchteten Stämme, auf denen dichtes Moos wie grünes Fell wuchs. Als sich die sechs Schiffbrüchigen ihren Weg durch das Dickicht bahnten, flohen kleine Pelztiere vor ihnen die Bäume hinauf, fast zu schnell für das menschliche Auge. Einmal erschreckte sie eine Totenkopfviper, die ihnen zischend und rasselnd drohte – bis Lorgis sie mit der Spitze seiner Muskete in hohem Bogen durch den Wald schleuderte. Kriss verfluchte ihre immer noch feuchten Schuhe, die bei jedem Schritt quietschten, und das Gefühl, von tausend hungrigen Augen beobachtet zu werden. Normalerweise gab es auf so kleinen Inseln wie dieser keine größeren Räuber. Aber normalerweise gab es auch keine Fische aus Eisen, die Schiffe fraßen. Und vielleicht waren die menschlichen Bewohner der Insel auch sehr viel gefährlicher als jede Fauna. Denn dass es hier Menschen gab, verriet ihn ein weiterer Hinweis, den sie schon kurz nach Beginn ihrer Wanderung entdeckten: ein schmaler Trampelpfad, der durch das Unterholz führte.
Barabell ging in die Hocke und untersuchte den Boden. »Höchstens ein paar Tage alt«, sagte sie. »Hier ist vor gar nicht allzu langer Zeit wer lang gekommen.«
Mit ernster Miene sah sie zu den anderen auf. Kriss schluckte, während sich Lian, Aulin und Grimald nervös umsahen.
»Wenn’s hier Menschen gibt, dann haben sie auch Wasser und was zu essen«, entschied Lorgis. »Also machen wir besser ’nen guten Eindruck, wenn wir ihnen begegnen. Weiter!«
Mit schussbereiten Gewehren gingen sie tiefer in den Wald. Lorgis und Barabell bildeten die Vorhut, dicht gefolgt von Aulin und Grimald. Kriss ging ihnen nach. Lian blieb ein oder zwei Schritte hinter ihr zurück. Sie glaubte zu spüren, wie er sie dabei ansah. Es war ihr unangenehm. Trotz aller anderen, dringenderen Sorgen spukte ihr die Erinnerung an den Kuss durch den Kopf. Wie er sich von ihr abgewandt hatte. » Es tut mir leid. «
Es tat immer noch weh. Sie rang nach Luft, schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu vertreiben. Ohne Erfolg.
Möglich, dass sie auf dieser Insel sterben würden – und alles, an das sie dachte, war ein einziger Kuss.
»Kriss ...« Lian ging plötzlich neben ihr, die Muskete geschultert.
»Nein«, stellte Kriss klar.
Er blinzelte verwirrt. »Was, nein ?«
»Nein, ich will nicht darüber reden.« Sie blickte stur geradeaus, auf Grimalds breiten Rücken.
»Du weißt doch gar nich’, was ich sagen –!«
»Doch, das weiß ich. Und du kannst dir dein ›tut mir leid‹ sonstwo hinstecken. Immer wenn ich glaube, dass du kein Idiot bist, tust du alles, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Ich bin kein Idiot!« Leiser fügte er hinzu: »Nur ein Mistkerl ...«
»Das habe ich mittlerweile auch mitbekommen.«
Die Rufe aus dem Dschungel füllten das Schweigen zwischen ihnen.
»Ich wollt’ dir nich’ weh tun«, sagte Lian nach zehn stummen Schritten. Er sprach leise, als fürchte er, die anderen könnten ihn hören.
Warum tust du das? , dachte sie. Warum bohrst du in meiner Wunde? »Spar dir das für die Mädchen, mit denen du sonst verkehrst.« Ich wünschte, ich hätte dich nie getroffen!
»Es gibt keine anderen Mädchen«, sagte Lian.
Erst jetzt sah sie ihn an.
»Du bist die Einzige!« Er sagte es lauter, als er anscheinend wollte und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass es niemand mitbekommen hatte.
Kriss blieb stehen. »Was soll das heißen?«
Lian setzte zu einer Antwort an.
»Da oben!«, zischte Barabell.
Kriss und Lian rissen die Köpfe hoch. Es war dunkler geworden. Die Sonne wurde
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