Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
konnte es sein, dass Bria sie entdeckt hatte? War sie vielleicht dort, ohne eine Möglichkeit, zurückzukehren? Ihr wurde heiß und schwindelig zugleich; Lian schien es bemerkt zu haben und öffnete das Fenster zum Meer ein wenig. Eine Salzbrise mischte sich mit dem Duft von brennendem Holz.
»Sein Freund muss Veribas für verrückt gehalten haben«, sagte die Baronin. »Zumindest hat er – soweit bekannt – keinerlei Anstalten gemacht, den Hinweisen nachzugehen oder sie jemand anderem zu zeigen. Der Brief verschwand in seinem Schreibtisch und er selbst starb bald darauf ohne Erben.«
»... und sein Nachlass wurde versteigert«, ergänzte Kriss.
»Ganz recht.« Die Baronin nahm einen letzten Schluck Branntwein und stellte das leere Glas auf den Tisch. »Nun? Was haltet Ihr von dem Brief, Doktor Odwin?«
Kriss holte tief Luft. »Ich kenne Veribas’ Handschrift. Wir haben einige seiner Monographien in der Universitätsbibliothek. Dieser Brief stammt von ihm, oder ist eine sehr gute Fälschung. Aber«, fügte sie schnell hinzu, »ich bin natürlich keine Graphologin.«
»Ich vertraue dennoch Eurem Urteil«, sagte die Baronin.
Erst jetzt fiel Kriss wieder das andere Papier aus dem Koffer ein und nahm es mit zitternden Fingern. Es hatte unter dem Brief gelegen und war ebenfalls zweimal gefaltet gewesen. Doch es trug nicht Veribas’ Handschrift, sondern war mit Symbolen bedruckt, die anscheinend nur aus Strichen, Kurven und Kringeln bestanden. »Ist das der erste Wegweiser?«
»So ist es.« Die Baronin setzte sich auf den Sessel neben Kriss und schlug die langen Beine übereinander. »Ich habe mich bereits an seiner Deutung versucht, aber bislang ist es mir nur gelungen, die Schrift als Dorakisch zu identifizieren. Allerdings sind meine Kenntnisse dieser Sprache rudimentär, fürchte ich. Soweit ich weiß, gibt es nur ein paar hundert Gelehrte, die diese Sprache noch sprechen.«
Kriss nickte. »Noch weniger, glaube ich.« Die frische Luft hatte ihr gut getan. »Aber Ihr habt Recht, es ist Dorakisch.«
Die Baronin beugte sich vor. »Könnt Ihr es übersetzen?«
»Ja«, sagte Kriss. »Ja, ich denke schon.«
»Und? Was ist es? Ein Rätselvers? Ein weiterer Brief?«
»Eine Seite aus einem Buch, würde ich sagen. Hier, dieses Symbol am rechten Rand ... das ist eine Seitenzahl.«
»Ein Buch?« Lian zog die Augenbrauen hoch.
»Ja.« Kriss räusperte sich und las vor: »›... die Gemeine Sprungnatter, die in diesem Teil der Welt heimisch ist, befleißigt sich einer ganz besonderen Art der Fortbewegung. Zu einer Spirale zusammengerollt kann sie bis zu drei Klafter hoch springen und sich so vor ihrem natürlichen Feind, dem Schattenschleicher in Sicherheit bringen, jenem Räuber, der nur im Schatten von Bäumen und Felsen lebt und im Licht der Sonne vergeht wie ...‹« Sie brach ab. »Tolmens Bestiarium!«
»Doktor?«
»Ich weiß, welches Buch das ist! ›Eine mannigfaltige Auswahl exotischer und ganz und gar unglaublicher Flora und Fauna aus allen Teilen dieser Welt, aufgezeichnet und festgehalten von Ramaro Tolmen, Abenteurer, Naturforscher, Philosoph und Kapitän mehrerer Schiffe.‹«
»Guter Titel«, sagte Lian trocken.
»Es ist bekannt als ›Tolmens Bestiarium‹«, erklärte Kriss. »Tolmen war ein Scharlatan, der vor zweitausend Jahren in Silestrin lebte. Er hat das Buch auf eigene Kosten drucken lassen, weil niemand anders es haben wollte. Keine der Spezies, die er beschreibt, hat es je gegeben. In akademischen Kreisen gilt es als ein Witz, ein amüsantes Märchenbuch. Ich ... ich habe es selbst nie gelesen, aber ich kenne Ausschnitte daraus aus anderen Büchern!«
»Und habt Ihr eine Ahnung, was Veribas uns damit sagen wollte, Doktor?«
»Leider nein, Madame. Hmmm. Die Seite stammt nicht aus dem Originalbuch. Es ist nur eine Kopie. Die Rückseite ist unbedruckt, wie Ihr seht. Es könnte sein, dass man die gegenüberliegende Seite braucht, um es zu verstehen.«
Die Baronin faltete die Hände. »Ihr besitzt nicht zufällig ein Exemplar dieses Buches?«
»Nein«, sagte Kriss bedauernd. »Und die Universitätsbibliothek auch nicht. Aber ich weiß, wo es eines geben könnte!«
Die Augen der Baronin funkelten. »Wo?«
»In der Großen Bibliothek von Dschakura. Sie rühmt sich, jedes Buch zu besitzen, das jemals geschrieben wurde. Es stimmt nicht ganz, kommt aber der Wahrheit recht nahe.«
»Natürlich!«, rief Madame aus, als hätte sie von selbst darauf kommen müssen. Lian versuchte
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