Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
krampfhaft, ein Gähnen zu unterdrücken, obwohl er das Gerede über verschwundene Forscher eigentlich ganz spannend fand. Und die kleine Archäologin schien tatsächlich etwas von ihrem Handwerk zu verstehen. Trotzdem, es war ein langer Tag gewesen und –
Er spitzte die Ohren, als er im Flur ein leises Ächzen hörte und einen Körper, der zu Boden ging. Dann schnelle Schritte, die sich von der Tür fortbewegten. Jemand rannte, in einem Haus, in dem Rennen verboten war.
Jemand hatte gelauscht!
Wie von der Sehne geschnellt, eilte er durch die Bibliothek und riss die Tür zum Flur auf. Links von ihm lag einer der Bediensteten auf dem Teppich, ein winziger Pfeil steckte in seinem Hals. Lian riss den Blick herum. In der anderen Richtung sah er einen glatzköpfigen Mann in dunkler Kleidung den Flur hinablaufen, mit dem Rücken zu ihm. Zumindest glaubte er, dass es ein Mann war.
Der Fremde drehte sich nicht nach ihm um, sondern rannte die Treppe ins Foyer hinab. Lian stoppte vor der Brüstung und sah, wie der Mann einen Diener zur Seite schubste. Lians Gedanken rasten – er ahnte, was der Einbrecher vorhatte und machte schleunigst kehrt.
Die Baronin kam ihm entgegen. »Lian, was zur Dunkelwelt ist in dich gefahr –?«
»Später, Madame!« Er sprintete an ihr vorbei, in das nächste Zimmer. Dort riss er das Fenster auf, salziger Wind wehte ihm entgegen. Unter sich sah er das Ende der Klippe, auf der das Haus ruhte, und darunter die brüllenden Fluten. Mittlerweile war es stockdunkel draußen, allein der Gelbe Mond sorgte für Licht. Lian war sich sicher, dass der Einbrecher wusste, dass die Vorderseite des Hauses zu gut bewacht war. Also blieb ihm nur die unbewachte Hinterseite und von dort aus der Sprung ins Meer.
Zumindest würde er es so machen.
Krallenefeu wucherte auf der Rückwand des Hauses. Lian zog seine Hemdsärmel über die Hände und hielt sich an dem Holzgitter fest, um das sich die Pflanzen rankten. Dornen stachen ihm durch den Stoff in die Finger, aber er achtete nicht darauf. Der Boden lag nur noch ein Klafter unter ihm, als er den Ruf aus dem Haus hörte:
»Haltet den Einbrecher!«
Zu spät. Der Fremde war bereits draußen. Lian sah, wie er aus dem Fenster zum Bankettsaal kletterte, fast unter ihm hinweg!
Hast du dir so gedacht! Lian holte tief Luft – und sprang. Er landete direkt auf dem Einbrecher und riss ihn ächzend zu Boden. Sofort rappelte Lian sich auf, genau wie der Fremde. Lian erstarrte.
Der Mann hatte kein Gesicht. Das Mondlicht schimmerte auf einem völlig glatten Schädel, ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren, ohne Mund.
»Tut mir leid, Kleiner«, sagte der Einbrecher gut gelaunt und mit sehr menschlicher Stimme. Ehe Lian reagieren konnte, wirbelte er herum und trat den Jungen von den Beinen. Lian landete schmerzhaft auf dem Rücken, ein Stein stach ihn in sein rechtes Schulterblatt. Er biss die Zähne zusammen, sprang wieder auf.
Aber er konnte nur noch zusehen, wie der Mann ohne Gesicht ihm zuwinkte und dann kopfüber ins Wasser sprang. » Korf! «, fluchte Lian. Er rannte ihm nach und kam im letzten Moment vor dem Rand der Klippe zum Stehen.
Zwei Klafter unter ihm war der Gesichtslose längst zwischen den Wellen verschwunden. Einen Moment lang bildete Lian sich ein, unter dem Wasser einen Lichtschein zu sehen, aber das war wahrscheinlich nur ein Streich des Mondlichts. Dafür fand er die Erklärung, wie der Einbrecher überhaupt die Klippe hinauf gekommen war. Nur einen Schritt von der Stelle entfernt, an der er stand, hatte sich ein Kletterhaken in die Erde gegraben, daran hing ein Seil. Der Kerl musste sich mit einem Boot genähert haben, überlegte Lian. Oder er war geschwommen, den ganzen Weg hierher, wo auch immer er hergekommen war.
Lian spuckte verächtlich über die Klippe und drehte sich um. Die Hauswachen stürmten ihm entgegen, ihre Musketen drohend erhoben.
»Er is’ weg«, erklärte Lian ihnen mit schlecht unterdrückter Wut. »Und ihr seid mal eindeutig überbezahlt!«
»Madame.«
Kriss sah zur Tür, als Lian kurz darauf wieder die Bibliothek betrat, noch damit beschäftigt zu Atem zu kommen. Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt und ließ mit der Linken die Knöchel knacken; ein Geräusch, das Kriss Schauer über den Rücken jagte. »Der Mistkerl is’«, Lian biss sich auf die Zunge, » ist entkommen. Ist einfach ins Meer gesprungen.«
»Wir haben es gesehen.« Die Baronin stand neben Kriss’ Sessel, eine Hand auf der Rückenlehne. Sie
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