Der Schatz des Blutes
begriffen jedoch schnell, was sie da sahen, und sie beobachtete, wie sich vier gebeugte Gestalten gleichzeitig, aber viel zu spät umdrehten, um dem Gegner zu folgen, der längst eine niedrige Mauer als Sprungbrett benutzt hatte, um mit einem Salto über sie hinwegzuschnellen. Er landete hinter ihnen in der Hocke, fuhr geschickt herum und hieb den Nächststehenden mit der flachen Klinge auf den Rücken, bevor er sich erneut umdrehte und mit einem Satz einen vorstehenden Dachbalken ergriff, um sich mit einer Hand auf eine Fensterbank zu schwingen. Dort wandte er sich lachend um und winkte seinen Begleitern zu, um gleich darauf im Inneren des Hauses zu verschwinden.
Das alles hatte nur Sekunden gedauert, und bis Alice ihrem Kutscher befehlen konnte anzuhalten, war der Kämpfer verschwunden.
Schon war der Hauptmann ihrer Wachen an ihrer Seite, und sie befahl ihm abzusteigen. Dann wies sie auf die vier überrumpelten Ritter, die jetzt in das leere Fenster blickten und nach ihrem verschwundenen Gegner riefen. Es gehöre noch ein fünfter Mann zu ihnen, sagte die Prinzessin, größer als alle anderen, und diesen wünsche sie zu sprechen – doch noch während sie mit ihrem Hauptmann sprach, tauchte der Ritter wieder auf. Er kam um das Haus gebogen, in dem er verschwunden war, und stürzte sich jetzt von hinten auf die anderen, die ihn noch nicht bemerkt hatten.
»Das ist er«, sagte sie unnötigerweise. »Bringt ihn sofort zu mir.«
Der Hauptmann, dem solche Grillen der Prinzessin vertraut waren, neigte wortlos den Kopf, salutierte und setzte sich in Bewegung. Dabei signalisierte er dreien seiner Männer, abzusteigen und ihm zu folgen. Alice hatte die Vorhänge wieder geschlossen und durch den schmalen Schlitz zwischen den beiden Hälften zugesehen, wie die Wachen sich den Männern näherten und sie ansprachen.
Als sie nun dem Mann, den sie hatte rufen lassen, ins Gesicht blickte, war Alice froh, dass sie ihrem Impuls gefolgt war und aus dem Fenster gelugt hatte.
Unterdessen rieb sich der Mann die Augen, dann öffnete er sie wieder. Er blinzelte noch mehrmals, dann ergriff er das Wort.
»Verzeihung, Mylady, aber die plötzliche Dunkelheit hat mich geblendet, und ich konnte Euch zunächst nicht sehen. Euer Offizier sagte mir, Ihr wünscht, mich zu sprechen?«
»So ist es. Dürfte ich Euren Namen erfahren, Sir?«
»Meinen Namen? Stephen, Mylady … Sir Stephen St. Clair aus York und Anjou.«
»Nun denn, Sir Stephen. Und wisst Ihr auch, wer ich bin?«
Der junge Ritter schüttelte den Kopf. Er konnte jetzt besser sehen.
»Ich bin Alice de Bourcq.«
Er nickte, doch es war offensichtlich, dass der Name für ihn keine Bedeutung hatte, und sie runzelte die Stirn.
»Seid Ihr neu hier? Warum habe ich Euch noch nie gesehen?«
Wieder schüttelte St. Clair den Kopf.
»Neu nicht unbedingt, Mylady, aber ich bin auch noch nicht lange hier. Ich bin vor ungefähr drei Monaten hier eingetroffen, um mich den Brüdern von der Patrouille des Patriarchen anzuschließen.«
Alice riss erstaunt die Augen auf.
»Den Brüdern! Seid Ihr etwa ein Mönch?«
»Bald, so hoffe ich, Mylady. Ich bin noch Novize und befasse mich mit dem Studium der Regel.«
»Regel? Welcher Regel denn?«
»Der Regel des heiligen Benedikt, Mylady. Das Leben, das er den Mönchen vorschreibt.«
»Ah! Natürlich.«
Aus der Nähe konnte Alice deutlich sehen, dass er zwar einen schönen Körper hatte, es ihm aber an Fantasie mangelte und er keine Spur von Humor besaß.
Ein Staubwölkchen wehte ins Innere der Kutsche; winzige Partikel schwebten flimmernd im Licht, und Alice hustete geziert in das Leinentüchlein in ihrer Hand.
»Bitte kommt doch herein und schließt die Tür. Ich habe einige Fragen an Euch, und es wäre mir lieber, wenn ich keinen Staub einatmen muss, sobald ich den Mund öffne.«
»Fragen, Mylady? Was könntet Ihr für Fragen an mich haben? Ihr kennt mich doch gar nicht.«
Es war wirklich hinreißend, wie er mit großen, unschuldigen Augen so überrascht vor ihr stand. Im Mundwinkel der Prinzessin zuckte ein ironisches Lächeln.
»Das lässt sich leicht beheben, glaubt mir«, murmelte sie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu hören. »Ich dagegen kenne Eure Brüder. Sie haben meiner Mutter einmal das Leben gerettet. Obwohl das Jahre her ist, ist sie ihnen immer noch dankbar und hat oft mit ihnen zu tun. Aber ich wüsste vor allem gern, wie Ihr gelernt habt, so zu fliegen, obwohl Ihr von Kopf bis Fuß in einem Kettenpanzer
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