Der Schatz des Blutes
Männer in Bewegung setzen, doch sie beachtete sie nicht weiter, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem jungen Mann mit der ernsten Miene und den leuchtend blauen Augen.
Ohne sich bewusst zu sein, dass sie ihn durch einen Schlitz in den Ledervorhängen beobachtete, hatte er gerade sein langes Breitschwert in den Boden gesteckt. Dann hatte er mit beiden Händen den Verschluss unter seinem Kinn gelöst und sich die Kapuze seines Kettenpanzers vom Kopf gezogen. Darunter war überraschend langes goldenes Haar zum Vorschein gekommen, das er wie ein Hund schüttelte, bevor er die verschwitzten Strähnen grob mit den Fingern auskämmte. Dann griff er wieder nach seinem Schwert, das er sich unter den Arm klemmte, bevor er geradewegs auf die Kutsche zusteuerte.
Alice ließ den Vorhang los und zog sich hastig in die äußerste Ecke der Kutsche zurück, als sie hörte, dass sich einer der Soldaten anschickte, die Tür zu öffnen. Licht strömte in die Kutsche, und der Fremde trat heran, bis seine Schultern die Tür blockierten. Seine breite Stirn kräuselte sich sacht, als er sich nun vorbeugte, um in das Dämmerlicht zu blinzeln, das Alice verbarg.
»Mylady, Ihr wünscht, mich zu sprechen?«
Sein Blick wanderte über sie hinweg, ohne sie zu sehen, und sie antwortete erst mal nicht. Ihr war klar, dass er vom abrupten Wechsel aus der Sonne in den Schatten geblendet war und ihr einige Sekunden blieben, um ihn ungehindert zu betrachteten, bis sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Er war die Perfektion in Person: unfassbar blaue Augen unter blassgoldenen Augenbrauen; ein Mund, dessen volle, harmonisch geschwungene Lippen wie zum Küssen geschaffen schienen, ebenmäßige, leuchtend weiße Zähne und langes seidiges Haar, das ihm jetzt in Wellen über den kräftigen Hals fiel. Die meisten Ritter trugen lange Vollbärte und kurzes Haupthaar, weil es in ihren engen Kapuzen so angenehmer war. Dieser Mann hielt es umgekehrt; er hatte sich das Kinn rasiert und trug die Haare lang. Aus Eitelkeit?, fragte sie sich.
Es war purer Zufall gewesen, dass sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Sie war auf dem Heimweg von einer Freundin gewesen, welche die Unverschämtheit besessen hatte, krank zu werden, sodass Alice nun unerwartet zu einem Abend voller Langeweile verdammt war und entsprechend schlechte Laune hatte. Schmollend war Alice durch die Straßen gefahren, die Ledervorhänge fest gegen das aufdringliche Sonnenlicht geschlossen.
Dann hatte sie Waffenklirren und Gelächter gehört, und selbst jetzt konnte sie nicht sagen, warum sie als Reaktion auf dieses Geräusch den Vorhang geöffnet hatte, denn Soldaten, die ihre Waffenfertigkeit trainierten, waren nichts Ungewöhnliches. Jerusalem war in ständiger Bedrohung durch Feinde jenseits der Grenzen, und ihr Vater unterhielt eine große Armee, die sich in fortwährender Kriegsbereitschaft befand, sodass die ganze Stadt von den Geräuschen aufeinanderprallender Waffen, lauter Anfeuerungsrufe und lachender Männerstimmen erfüllt war.
Ausgerechnet diese Gruppe miteinander rangelnder Rüpel hatte ihre reizbare Laune noch mehr verschlechtert, und sie hatte schon die Vorhänge zurückgerissen und sich vorgebeugt, um ihre Wut an ihnen auszulassen. Doch als sie den Mund öffnete, um ihren Wachen etwas zuzurufen, hatte sie den Mann gesehen, der jetzt vor ihr stand, und alles um sich vergessen.
Selbst aus der Ferne, gesichtslos und von Kopf bis Fuß von seinem Kettenpanzer verhüllt, hatte er den Eindruck erweckt, als sei er anders als die anderen. Möglich, dass es die Art war, wie er sich bewegte, denn das Erste, was Alice von ihm sah, war, wie er sich mit der Eleganz eines Leoparden durch die Lüfte schwang.
Allein dieser erste Eindruck müheloser Anmut hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis geprägt.
Für gewöhnlich waren Ritter Muskelberge – was ja nicht ausblieb, wenn man jahrelang tagaus, tagein unter größtem körperlichen Einsatz den Kampf probte. Was sie jedoch selten an den Tag legten, waren Anmut, Eleganz und Leichtigkeit. Durch ihre eigenen Muskelmassen behindert, bewegten sie sich langsam und vornübergebeugt mit o-beinigen Schritten, eine Haltung, in der es sich zu Fuß am besten kämpfen ließ, Nase an Nase und Schwert an Schwert, bis der beste Mann siegte.
Dieser hier schien jedoch ganz anders zu sein. Das erste Mal tauchte er als verschwommener Schatten im Gesichtsfeld der Prinzessin auf, der sich extrem schnell bewegte. Ihre Augen
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