Der Schatz des Blutes
betrachtete.
»Mutter«, sagte sie ungerührt und nickte zum Gruß kaum merklich mit dem Kopf. »Ich dachte, du bist krank und kannst das Bett nicht verlassen?«
»Das war ich auch«, erwiderte ihre Mutter ausgesprochen kühl. »Aber ich bin wieder gesund, und anscheinend geht es mir besser als dir. Wo bist du gewesen, Kind, und was hast du getan, und woher kommt dein wildes Äußeres?«
»Ich habe geweint, Mutter. Tränen der Wut und der Erniedrigung.« Die Kälte in Alices Stimme stand dem Ton ihrer Mutter in nichts nach.
»Tränen? Ausgelöst wodurch, wenn ich fragen darf?«
»Durch das Leben, Mutter, und nein, mehr darfst du nicht fragen.«
Morfia richtete sich steil auf. Auch ihr stand jetzt die Wut ins Gesicht geschrieben.
»Deine Unverschämtheit überrascht mich zwar nicht, dennoch steht sie dir nicht gut zu Gesicht. Ich schlage vor, dass du dir das verquollene Gesicht wäschst, bevor dein Vater dich zu Gesicht bekommt. Du darfst dich wieder zu uns gesellen, wenn dein alberner Anfall vorüber ist und du dir zumindest einen zivilen Anschein gibst.«
Alice wandte sich ab und schlich in ihre eigenen Gemächer. Immerhin hatten die Hofdamen ihrer Mutter es nicht gewagt, in ihre Richtung zu blicken. Sie waren ihrer Mutter zwar treu ergeben, doch sie wussten auch, dass alle Wachsamkeit der Königin sie nicht vor Alices Zorn bewahren konnte, wenn sie sich amüsiert darüber zeigten, wie Morfia mit ihr umging.
Morfia von Melitene war der Fluch im Leben ihrer Zweitältesten Tochter – und gleichzeitig musste Alice einräumen, dass sie sie widerstrebend respektierte. Ihre Mutter, so fand Alice, war zehnmal der Kerl, der ihr Vater war. So deutlich es für die Außenwelt gewesen war, dass Baldwin die Grafschaft Edessa mit eiserner Hand regiert hatte, so deutlich hatte Alice schon als kleines Mädchen wahrgenommen, dass ihre Mutter den Grafen nicht minder streng beherrschte. Allein deshalb respektierte Alice Morfia.
Doch Respekt war nicht dasselbe wie Zuneigung, denn diese hatte es zwischen Mutter und Tochter nie gegeben. Sie hatten sich niemals nahegestanden, ohne dass Alice gewusst hätte, warum. Doch es war ihr auch längst gleichgültig geworden. Sie wusste nur, dass sie tun konnte, was sie wollte, die Missbilligung ihrer Mutter war ihr ohnehin gewiss.
Alice hatte große Ähnlichkeit mit ihrem Vater – als einzige der vier Töchter hatte sie seine blonden Haare, seine helle Haut und seine grünbraunen Augen geerbt. Die anderen drei ähnelten Morfia, die auch heute noch eine exotische Schönheit mit einem makellosen Gesicht und einem zarten Körperbau war, der ihre adelige armenische Herkunft verriet.
Morfia war vom ersten Tag an in ihre erstgeborene Tochter Melisende vernarrt gewesen, die unleugbar ihre Mutter en miniature war, sich in dieselben Farben kleidete und schon als Kleinkind ein Geschöpf von solcher Schönheit gewesen war, dass ihr Anblick überall lautstarke Bewunderung auslöste.
Damit hatte Alice niemals konkurrieren können. Sie war zwar alles andere als hässlich, doch neben ihrer älteren Schwester sah sie schlicht gewöhnlich aus. Allerdings hatte sie auch den wachen Verstand ihres Vaters geerbt, und so merkte sie rasch, dass ihre bildschöne Schwester Melisende keinen Funken Esprit besaß.
Dennoch war sie lange auf Melisende eifersüchtig gewesen, bis die beiden jüngeren Töchter heranreiften. Je ähnlicher diese ihrer Mutter wurden, um so mehr Zuwendung hatten sie erfahren – und um so zielstrebiger waren sie darauf vorbereitet worden, die Gemahlinnen mächtiger Männer zu werden. Nur Alice, die niemals lächelte und häufig schmollte, die launisch war und sich den Gästen ihrer Mutter gegenüber unfreundlich zeigte, hatte sie nur dann wahrgenommen, wenn es etwas zu kritisieren gab.
Morfia jedoch wurde schon bald zum Gegenstand der Beobachtungsgabe der kleinen Prinzessin. Alice war noch keine elf Jahre alt gewesen, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter eine hochinteressante Persönlichkeit war, die ein faszinierendes Eigenleben führte. Morfia, das blieb Alice nicht verborgen, hatte ihre eigenen Pläne. Und die Methoden, die sie zu ihrer Durchsetzung anwandte, waren mannigfaltig.
Natürlich war ihr sehr wichtig, dass dieses Eigenleben anderen verborgen blieb, und sie zu beobachten, entwickelte sich für Alice zu einer wahren Wissenschaft.
In der Öffentlichkeit spielte sie die getreue und ergebene Gattin des Grafen von Edessa. Sie war die Würde in Person. Im Kreis ihrer Familie
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