Der Schatz des Blutes
und Freunde spielte sie die liebevolle Freundin und fürsorgliche Mutter. So hatte sie sich den Ruf einer lebenden Heiligen erworben, deren ganzes Leben sich allein um das Wohlergehen ihres Gemahls und ihrer Töchter drehte.
Ganz privat jedoch war Morfia einfach nur Morfia – eine Frau, die nur wenige zu Gesicht bekamen und die die meisten gar nicht erkannt hätten.
Diese Frau zu beobachten bedeutete, dass Alice zur Spionin werden musste. Wenn Morfia in diesen zurückgezogenen Stunden Gesellschaft wünschte, so wurde die entsprechende Person zu ihr gerufen. Sonst jedoch blieb die Gräfin von Edessa allein und arbeitete mit Konzentration und Hingabe an der Durchsetzung ihrer Interessen.
Genauso hätte Alice am liebsten auch gelebt, weshalb sie mühelos in der Lage war, sich in den Winkeln der Räume, die ihre Mutter benutzte, unsichtbar zu machen. Und sie begriff schnell, dass sie von ihrer Mutter vieles lernen konnte, selbst wenn Morfia nicht das geringste Interesse daran hatte, ihre Tochter etwas zu lehren. Umso sklavischer hatte sich Alice darangemacht, das Verhalten ihrer Mutter zu studieren und sich ihre Methoden anzueignen. Ohne etwas zu ahnen, lehrte Morfia ihre Tochter ein Geheimnis, das Melisende niemals brauchen würde, selbst wenn sie klug genug gewesen wäre, es sich zunutze zu machen: Morfia lehrte ihre zweitjüngste Tochter, wie man Männer manipulierte.
Alice wusste, wie sich die Männer in der Gegenwart ihrer Mutter verhielten – und wie überraschend sich ihre Mutter manchmal in der Gegenwart von Männern verhielt, die sie zu beeinflussen gedachte. Sie wusste, wie Männer in der Öffentlichkeit mit ihrer Mutter umgingen – wo Morfia die Gemahlin des Grafen war und sie, so mächtig sie auch in ihren eigenen Domänen sein mochten, dessen Untertanen waren. Doch wenn sie Morfia unter vier Augen begegneten, tanzten sie einen ganz anderen Tanz, ebenso formell, aber intimer, voller geheimer Nuancen und Absichten, die dadurch, dass sie unausgesprochen blieben, nur umso deutlicher zutage traten.
Während ihre Mutter bei diesen Begegnungen die Grenzen des Anstandes nie überschritt, stolzierten die Männer um sie herum wie exotische Vögel beim Balztanz, unzweifelhaft überzeugt, dass ihr königliches Gegenüber kurz davor war, sich ihnen zu ergeben. Besonders spannend waren die Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter ganz offen auf solche eindeutigen Angebote einging, indem sie mit den Augen klimperte und ihre weiblichen Rundungen besonders aufreizend zur Schau stellte. Und doch ließ Morfia niemals zu, dass sie die Kontrolle über die Situation verlor oder einer der Männer sie berührte.
Einmal hatte Alice gar beobachtet, wie sich ein Mann ihrer Mutter gegenüber im Zustand völliger Erregung entblößte – doch auch das konnte Morfia nicht aus der Fassung bringen.
»Mylord«, hatte sie ihn lächelnd angesprochen und ihm direkt in die Augen gesehen, als sei nichts Ungewöhnliches an dieser Situation, »es ist nicht zu übersehen, dass ich etwas besitze, das Ihr begehrt. Und wie Ihr wisst, besitzt Ihr auch etwas, was ich begehre. Beide Wünsche sind zu erfüllen, ohne dass es jemand anderer erfährt. Aber die wahre Herausforderung liegt doch in der Entscheidung, wer von uns beiden den ersten Schritt tut, nicht wahr? Nun mögt Ihr ja beschwören, dass ich im Unrecht bin, aber im Innersten wisst Ihr genauso gut wie ich, dass ich eine Närrin wäre, wenn ich diejenige wäre.«
Der Mann war auf sie zugetaumelt, doch Morfia hatte warnend die Hand erhoben. Er war stehen geblieben und hatte sie angestarrt, während das Corpus Delicti dahinwelkte. Dann hatte er abrupt genickt, seine Kleidung wieder zurechtgerückt und ihr gesagt, dass sie natürlich Recht habe und beobachten solle, wie er sich in den darauffolgenden Tagen verhalten werde. Davon, dass er zurückkommen würde, um sich seine Belohnung abzuholen, sagte er nichts, und Alice hatte die Geistesgegenwart ihrer Mutter gar nicht genug bewundern können.
Auf diese Weise hatte sie noch viele andere Lektionen gelernt, doch sie waren alle auf das eine, allumfassende Bewusstsein hinausgelaufen, dass Männer in der Hand einer entschlossenen, besonnenen Frau zu Wachs wurden, wenn diese ihnen mit erotischer Befriedigung winkte. Und dass es wichtig war, diskret vorzugehen. Hätte ihr Vater nur den geringsten Verdacht geschöpft, was sich unter seinem Dach abspielte, hätte es mit Sicherheit Blutvergießen gegeben, und auch Morfia wäre nicht verschont
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