Der Schatz des Blutes
Weil sie sich sicher war, unter dem schweren Brokat ihres Gewandes jede Zurückhaltung und jeden Anstand zu wahren, schütteten ihre unbewussten Bewegungen allerdings weiteres Öl in das Feuer der überhitzten Fantasie des jungen Mannes, bis er so erregt war, dass ihm nur noch eine Wahl blieb, wenn es nicht zum Äußersten kommen sollte: Er sprang totenbleich auf und lief davon.
Selbst als sie später in Ruhe darüber nachdenken konnte, begriff Alice nicht, was geschehen war. Er war vor ihr geflüchtet, so viel stand fest, und ihre Wut hatte auch Stunden später kaum nachgelassen. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie getan hatte, um diese erstaunliche Reaktion hervorzurufen. Noch nie hatte ein Mann sie so beleidigt, und dafür würde sie sich rächen.
Natürlich war er ein Mönch, natürlich war er an sein Keuschheitsgelübde gebunden. Das war Grosbec jedoch ebenfalls gewesen. Was ihn nicht von ihrem Bett ferngehalten hatte. Wie konnte ein schlichter Eid stärker sein als so etwas Unwiderstehliches wie sie?
Also dachte Alice über andere mögliche Gründe für das Verhalten des Mönches nach – angefangen mit der Vermutung, dass er schon eine Geliebte hatte. Diese konnte nur eine Frau von hoher gesellschaftlicher Stellung sein, da es nur wenige Christenfrauen in Jerusalem gab. Nicht einmal Alice hätte geglaubt, dass ein gläubiger christlicher Mönch ein Verhältnis mit einer Moslemfrau einging.
Hatte sie ihn bis jetzt nur tagsüber bespitzeln lassen, so befahl sie ihren Spionen nun, ihn Tag und Nacht im Auge zu behalten.
Einen Monat später musste sie widerstrebend einräumen, dass Bruder Stephen kein Verhältnis hatte, weder mit einer Christin noch einer Moslemin. Dank ihrer Spitzel hatte er keinen unbeobachteten Schritt mehr getan; sie hatten Protokoll darüber geführt, mit wem er sprach und was er auf dem Markt kaufte. Sie waren ihm sogar in die Wüste gefolgt, hatten aber nichts gesehen, was ihren Verdacht erregt hätte.
Ob er Männer liebte? Das war die einzige Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten, die Alice noch blieb. Möglich, dass sie ihn körperlich anwiderte und er deshalb davongelaufen war. Sie konnte es sich zwar nicht vorstellen, doch diese Möglichkeit war Balsam für ihre verletzte Seele.
Nach einem weiteren Monat intensiver Bemühungen konnten ihre Spitzel ihr allerdings nichts liefern, was ihren Verdacht bestätigt hätte. Die einzigen Menschen, mit denen St. Clair Umgang hatte, waren seine Ordensbrüder, und er war mit Abstand der jüngste von ihnen. Sie verschwanden jeden Abend zum Schlafen in den Stallungen, und sie beteten zu den merkwürdigsten Tages- und Nachtstunden, die ihnen die Benediktinerregel vorschrieb. Bei allem Vorsatz konnte man nichts entdecken, was darauf hingedeutet hätte, dass die Mönche ein Sexualleben hatten.
Auch zwei Monate nach dieser unglückseligen Begegnung war Alice noch so wütend und unversöhnlich wie zuvor, ohne dass ihr der junge Mönch jedoch aus dem Kopf gegangen wäre. Wann immer ihr ein Liebhaber nicht genug Befriedigung brachte, stellte sie sich vor, der Mann, der sie mit Leidenschaft nahm, sei Stephen St. Clair.
4
H
EREIN!« Ohne auch nur aufzublicken, erkannte Bischof Odo de Fontainebleau, der frühere Bischof von Edessa und jetzige Privatsekretär König Baldwins des Zweiten von Jerusalem, die Schritte, die sein Gemach betraten. Er lehnte sich bequem zurück, legte seinen Federkiel beiseite, rieb sich die Augen und gähnte herzhaft, dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf.
Vor ihm stand ein schmächtiger Mann mit viel zu kleinen Augen und einer langen Nase, der einen schweren, mit Leder bezogenen Behälter umklammerte, der als große Dokumentenmappe getarnt war.
Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos, seine Haltung bescheiden und seine Kleidung so eintönig, dass er alles andere als dazu einlud, dass man Notiz von ihm nahm. In jeder Menschenansammlung wäre er quasi unsichtbar gewesen.
Odo betrachtete den Mann einige Sekunden lang, bevor er die Hände sinken ließ und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Also, sprich. Was hast du herausgefunden?«
Das darauffolgende Kopfschütteln war kaum zu sehen.
»Nichts, was eine Antwort auf Eure Frage wäre. Da gibt es nichts herauszufinden. Die Spitzel der Prinzessin sind überall; sie sind mindestens zu sechst, und sie wechseln sich alle paar Stunden ab, aber sie verschwenden nur ihre Zeit – und werden wahrscheinlich gut dafür bezahlt. Ihr habt mich beauftragt, sie zu
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