Der Schatz des Dschingis Khan
sprang auf und bedeutete Muriel ihr zu folgen. Auch Görkhan erhob sich. »Ich sehe noch einmal nach den Tieren«, sagte er, streifte sich eine dicke Jacke über, setzte eine Fellkappe mit Ohrenklappen auf den Kopf und zog sich warme Stiefel an. Dann entzündete er eine Fackel am Feuer und stapfte aus dem Ger.
Während Muriel Toja folgte, kümmerten sich die Frauen um die kleineren Kinder oder räumten die Reste der Mahlzeit weg.
Auf der linken Seite des Zeltes lagen viele Felle auf dem Boden. Auch Kissen gab es hier. Alles war sauber, trotzdem sah es an dieser Stelle ziemlich ungeordnet aus. Es war nicht zu übersehen, dass hier der Schlafplatz für die Kinder sein musste. Der Anblick der Kissen und Felle erinnerte Muriel daran, wie müde sie war. Dankbar legte sie sich auf dem Platz nieder, den Toja ihr anbot, kuschelte sich in die warmen Felle und schloss die Augen, als sie plötzlich Musik hörte – jemand spielte auf einer Geige eine traurige Melodie.
»Wer spielt da?«, fragte sie Toja, die sich neben ihr hingelegt hatte.
»Mein Vater. Er spielt auf der Pferdekopfgeige*«, erklärte diese flüsternd. Muriel erschauerte, als das Bild eines bleichen, mit dünnen Saiten bespannten Pferdeschädels vor ihrem geistigen Auge auftauchte. Vorsichtig richtete sie sich auf, um nachzusehen, was für ein seltsames Instrument das wohl sein mochte. Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, erschien es ihr durchaus möglich, dass die Geige tatsächlich aus einem Pferdekopf gefertigt war.
Tojas Vater saß nicht weit entfernt auf einem Berg aus Kissen und spielte zum Glück nicht auf einem echten Pferdekopf, wie Muriel befürchtet hatte, sondern auf einem geigenähnlichen Instrument, das nur zwei Saiten hatte. Das eine Ende zierte ein geschnitzter Pferdekopf, dem das Instrument wohl seinen Namen verdankte. Ein geschnitzter Pferdekopf! Muriel atmete auf und ließ sich wieder auf das Kissen sinken. Ganz so barbarisch, wie sie befürchtet hatte, waren die Mongolen wohl doch nicht.
»Magst du die Musik?«, fragte Toja.
»Sie klingt traurig, aber schön.«
»Mein Vater spielt das Lied jeden Abend, um das Böse aus dem Ger zu vertreiben und uns gute Träume zu bringen«, erklärte Toja. »Wenn er mal nicht da ist, fehlt es mir immer.«
»Das ist ein schöner Brauch«, sagte Muriel und fügte hinzu: »Mein Vater kann leider keine Geige spielen.« Das war nicht einmal gelogen.
»Das ist aber schade.«
»Ja, ich weiß.« Muriel seufzte. Während sie der Melodie lauschte, die durch das Ger schwebte, dachte sie an Ascalon, der irgendwo draußen im Sturm ausharren musste. Und plötzlich war das schlechte Gewissen wieder da. Ich liege hier unter warmen Fellen und lausche der Musik. Und er …?
Es geht mir gut.
Da war es wieder, dieses einmalige Gefühl, mit dem Ascalon ihr auch ohne Worte eine Botschaft senden konnte. Ohne dass sie ihn sah oder etwas von ihm gehört hatte, wusste sie nun, dass sie sich nicht um ihn sorgen musste. Muriel lächelte und sandte Ascalon einen liebevollen Gedanken zurück. Jetzt würde sie beruhigt schlafen können.
»Das Pferd scheint wirklich Zauberkräfte zu haben!« Ein kalter Windzug fegte durch das Zelt, als Görkhan in das Ger zurückkehrte und sich den Schnee von der Jacke klopfte. »Stellt euch vor«, sagte er in einem Ton, als hätte er draußen ein Wunder erblickt, »Ojunas Pferd hat all unsere Tiere um sich geschart. Dicht aneinandergeschmiegt ruhen sie im Windschatten des Gers und wärmen sich gegenseitig.«
»Sind alle Tiere beisammen?« Tojas Vater hielt im Spielen inne und schaute seinen ältesten Sohn fragend an.
»Ja.« Görkhan nickte, streifte die dicke Kleidung ab und legte sich ebenfalls schlafen. Nach und nach kamen auch die kleineren Kinder dazu. Muriel hörte sie leise miteinander reden. Sie wollte sich umsehen, aber es gelang ihr kaum, die Augen zu öffnen. Während die Musik der Pferdekopfgeige wieder das Ger mit einem traurigen Gesang erfüllte, wanderten Muriels Gedanken zurück zu Ascalon und zum Birkenhof. Sie dachte an Fanny, Nadine und Vivien und sie erinnerte sich noch einmal an Fannys glückliche Rettung. Dann schlief sie ein.
Sie konnte noch nicht lange geschlafen haben, als lautes Schnarchen sie weckte. Zunächst wusste sie nicht, wo sie war, doch dann fiel es ihr wieder ein. Im Zelt war es jetzt sehr dunkel, nur die Glut in der Feuerstelle spendete ein diffuses Dämmerlicht. Das Schnarchen kam von Tojas Vater, der inmitten seiner drei Frauen nicht weit
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