Der Schatz des Störtebeker
Hand, ob er seine Forschungsarbeit über die Abgründe hansischer Machtpolitik und die Verlogenheit der Hamburger Bourgeoisie mit einem echten Kleinod krönen konnte. Er musste unbedingt an die Familienchronik der Burchards herankommen.
Er hatte eine Menge Material zusammengetragen, das helfen sollte, Störtebeker als Opfer der Profit-und Machtgier der angeblich braven Handelsleute in ein ganz neues Licht zu rücken. Dass die mittelalterliche Hanse alles andere als ein Altherrenverein gemütlich schachernder Pfeffersäcke gewesen war, hatte sich inzwischen herumgesprochen. Aber dass die angeblich so noblen Hanseaten weder vor Mord und Totschlag noch vor Diebstahl, Verrat und Entführung zurückschreckten und somit das strahlende, prosperierende Gemeinwesen namens Hamburg in Wahrheit nichts weiter war als ein gut getarntes Hauptquartier skrupelloser Raubritter, musste endlich ans Tageslicht gebracht werden. Dischers Arbeit über das Schicksal der Störtebeker-Enkelin würde erst der Anfang sein. Eines Tages würde man ihm einen ganzen Raum im Museum für Hamburgische Geschichte reservieren. Aber vorher brauchte er Forschungsgelder. Und die, das war klar, würde er nicht einfach so bekommen, die musste er sich mit einem Paukenschlag an Land ziehen. Darum ging’s auch.
Mit diesen Gedanken im Kopf hatte er sich den ausgebeulten Dufflecoat übergezogen und sich auf einen ausgedehnten Spaziergang über die Geesthänge hinter seinem Resthof begeben. Die gelegentlich losbrechenden Schneestürme machten ihm nichts aus, er liebte dieses Wetter, vor allem, wenn sich der Sturm mit kurzen sonnigen Abschnitten abwechselte. Da er weniger auf den Weg achtete und immer mehr ins Grübeln geriet, lief er viel zu weit. Seine Uhr hatte er auch vergessen, seine Tochter sowieso. Er dachte nur an Evelyne Burchard in ihrem säulenbewehrten Vorortschlösschen. Er stellte sich vor, wie sie von ihrem Sofa aufstand, durch den üppig dekorierten Salon ging und das Gemälde einer Elbidylle beiseite schob, um die Tür eines Tresors freizulegen. Sie öffnete den Safe und zog ein uraltes, ledergebundenes, halb zerfetztes, schweres Buch heraus und schleppte es zu ihrem Schreibtisch im Wintergarten. Dann würde sie darin blättern und lesen und immer wieder schreckensbleich hinaus in den Garten starren, die Nacht würde sich über das Anwesen in Othmarschen senken, und irgendwann, wenn ihr der Schrecken so richtig in die Glieder gefahren war, würde sie ihr Spiegelbild im Fenster anstarren, in der Gewissheit, das Gesicht einer Nachfahrin von würdelosen Gangstern zu erblicken.
Vielleicht sollte er noch mal zu ihr fahren, ein bisschen diplomatischer agieren, sich bei ihr einschmeicheln. Er grinste hämisch vor sich hin. Könnte er nicht versuchen, sie anzubaggern? Sie hatte zwar was matronenhaftes, aber so übel hatte sie auch nicht ausgesehen. Wieso war sie eigentlich nicht verheiratet? Seines Wissens war sie die Letzte der Burchards. Mit ihr würde eine hanseatische Dynastie sterben. Ihre einzige Möglichkeit, sich zu verewigen, wäre es, eine Stiftung zu gründen, ihr Geld einer sozialen, kulturellen oder wissenschaftlichen Institution zukommen zu lassen, die ihren Namen tragen würde. Das Evelyne-Burchard-Zentrum zur Rehabilitierung von Klaus Störtebeker und den von der Hanse Entrechteten. Ha, ha, sehr witzig.
Er war mehr als zwei Stunden gewandert. Über einen Rundweg gelangte er nach Hause zurück, kletterte schließlich über den Zaun und schlenderte über die Obstwiese vorbei an seinem Sendemast zur Haustür, die offen stand. Da fiel es ihm siedend heiß wieder ein: Annagreta! Er hatte vergessen, sie abzuholen.
Nun ja, offensichtlich war sie dennoch gekommen. Aber nein, das Scheunentor stand offen, und der Renault fehlte. Sie war wieder fort. Möglicherweise einkaufen gefahren. Dann kam sie sicherlich bald zurück. Ein Schreck durchzuckte ihn: die Brosche! Sie lag im Handschuhfach. Er beruhigte sich wieder. Sie war sicher bald zurück.
Er trat ins Haus und bemerkte die Unordnung. Was zum Teufel hatte Greta sich dabei gedacht, derart herumzuwüten? Es sah ja unglaublich wild aus hier. Er zog seinen Dufflecoat aus, ging in die Küche, legte den Mantel auf den Tisch, weil die Stühle alle umgeworfen waren. Nicht zu fassen, seine Tochter war ganz offensichtlich völlig durchgedreht. Sie hatte das Geschirr durch die Gegend geschmissen, den Kühlschrank offen gelassen, die Schubladen der Gefriertruhe herausgezogen.
Er hörte ein Knarren.
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