Der Schatz in den Highlands: Eine Liebesgeschichte im Schottland des 19. Jahrhunderts (Love and Passion) (German Edition)
einsamen Insel. Das war mein Reich, ein Platz, der mir ganz allein gehörte! Das Bett in der Größe von einem auf zwei Meter war einundzwanzig Jahre lang meine Zuflucht. In klaren Nächten konnte ich durch ein Fenster die Sterne funkeln sehen und stellte mir vor, dass meine Eltern von irgendwo dort oben auf mich herabblickten. In meinen Träumen nahmen sie Gestalt an, verfügten über schöne und gütige Gesichter.
Beim sonntäglichen Gottesdienst predigte Hochwürden Dickens jedes Mal, dass wir täglich auf unseren Knien Gott dafür danken sollten, einen Platz im Arbeitshaus gefunden zu haben.
»Hunderte von Waisen müssen auf Londons Straßen verhungern, oder sie führen ein unsittliches Leben. Nicht selten endet dieses nach kurzer Zeit am Galgen«, mahnte er mit erhobenem Zeigefinger. »Darum betet jeden Morgen und Abend, und dankt denjenigen, die euch Nahrung und Kleidung geben, wie es einem Christenmenschen geziemt!«
So, wie Hochwürden es darstellte, schien es, als gebe es auf der Welt keinen besseren Platz als das Arbeitshaus Half-Moon-Alley. Heute möchte ich mich auch nicht darüber beklagen, ich hätte es wahrlich schlechter treffen können. Harriet Channing achtete, neben Reinlichkeit und Demut, auch auf eine gewisse Bildung. Das bedeutete einen großen Vorteil gegenüber anderen elternlosen Kindern. Von meinem sechsten bis zum dreizehnten Lebensjahr erhielt ich pro Tag eine Stunde Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen. Dabei bewies ich eine rasche Auffassungsgabe, und ich verfügte über ein gutes Gedächtnis. Schon bald brachte mir Schwester Agnes hin und wieder ein kleines Buch aus der Bibliothek des Kirchspiels mit. Uns war es zwar streng verboten, diesen Raum zu betreten, doch Schwester Agnes hatte meinen Wissensdurst bemerkt.
»Unsere Möglichkeiten, Wissen zu vermitteln, sind beschränkt, doch aus Büchern kannst du alles lernen, was du möchtest.«
Wir achteten darauf, dass Mrs. Channing nichts davon erfuhr. Instinktiv wusste ich, dass sie es nicht gutheißen würde.
Was das Essen betraf, wurden wir nicht verwöhnt. Wenn ich an die Jahre im Arbeitshaus zurückdenke, so fällt mir in erster Linie ein, dass ich eigentlich immer hungrig war. Wochentags gab es Haferbrei, wässrige Gemüsesuppe, dunkles, trockenes Brot, manchmal einen Apfel oder eine Birne und Wasser. Nur am Sonntag nach dem Kirchgang wurde das Mittagessen zu einem Festmahl. Das Stück Rind- oder auch Schweinefleisch war zwar meistens zäh, die Kartoffeln zerkocht und das Gemüse geschmacklos, dennoch mundete es mir wie das zarteste Filet. Allerdings war es mir immer zu wenig. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich damals an einem Sonntag geritten hat. Ich muss etwa zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen sein. Nachdem ich mein karges Mahl verspeist hatte, war ich aufgestanden, nach vorne zu Mrs. Channing getreten und hatte ihr den leeren Teller entgegengestreckt.
»Bitte, ich möchte noch eine Portion!«
Alle in dem großen Saal hielten die Luft an. Mrs. Channing wurde erst bleich, dann schoss eine flammende Röte in ihre eingefallenen Wangen.
»Wie kannst du es wagen, du ungezogenes Kind!«
Sie erhob drohend die Hand. Einen Moment lang fürchtete ich, sie würde mich schlagen, und zog den Kopf ein, doch Mrs. Channing packte mich so fest am Oberarm, dass dort noch Tage später dunkle Male zu sehen waren, und zerrte mich hinter sich die steile Stiege zum Dachboden hinauf. Dort wurde ich für drei Tage in eine dunkle Abstellkammer voller Gerümpel gesperrt. Es gab keine Heizung, kein Wasser und auch keine Toilette. Einmal am Tag wurden mir von einem schweigsamen Mädchen ein Krug Wasser und ein Kanten trockenes Brot durch die Tür geschoben. Nach meiner Gefangenschaft musste ich in der Kirche mehrere Stunden auf den Knien verbringen und Gott für meine Sünden um Verzeihung bitten. Hochwürden Dickens ließ mich dabei nicht aus den Augen. Nach diesem Vorfall bat ich Mrs. Channing niemals wieder um etwas, doch die Nächte, in denen ich vor Hunger nicht einschlafen konnte, kann ich heute nicht mehr zählen.
Ansonsten war ich ein gehorsames Kind, betete fleißig jeden Morgen und Abend, so dass ich der Überzeugung war, dass meine Eltern allen Grund hatten, auf mich stolz zu sein. Ja, ich war gehorsam ... bis auf ein weiteres Mal! Die Strafe, die ich dafür erhielt, war so grausam, dass sie den Rest meines Lebens prägen sollte. Was waren dagegen ein paar Tage Gefangenschaft auf einem zugigen Dachboden?
»Es war der Wille Gottes, dich für
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