Der Schatz in den Highlands: Eine Liebesgeschichte im Schottland des 19. Jahrhunderts (Love and Passion) (German Edition)
gegenüberliegenden Straßenseite. Nein, ich würde nicht dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen war. Ich war jetzt frei! Keiner konnte mich länger zwingen, Hochwürden Dickens’ Predigten von Sünde, Tod und Verderben anzuhören! Ich lächelte und straffte die Schultern. Es war einfach, stets den Anweisungen von anderen Menschen Folge zu leisten, einfach und bequem. Doch das war für mich endgültig vorbei! Es stand mir nun frei, eigene Entscheidungen zu treffen. Je eher ich damit anfing, desto besser! Und so betrat ich das mir unbekannte Gotteshaus, aber die Predigt war auch nicht besser oder schlechter als die von Hochwürden Dickens. Als ich die Kirche gegen Mittag verließ, hatte sich das Wetter geändert. Nieselregen und Wind machten ein Umherschlendern wenig attraktiv, darum ging ich zum Salon zurück. Vielleicht war Kitty ja noch da, so dachte ich, und wir könnten gemeinsam etwas unternehmen, vielleicht ein Museum besuchen. Seit jeher war es mein Wunsch gewesen, einmal die Ausstellungen im Britischen Museum zu sehen. Hoffentlich würde es nicht viel Eintritt kosten, denn mit meinem schmalen Gehalt konnte ich mir keine größeren Ausgaben erlauben.
Als ich das Zimmer betrat, fuhr ich erschrocken zurück. Ja, Kitty war noch da, sie lag sogar noch immer im Bett, aber sie war nicht allein! Der Mann, der bei meinem Eintreten wie von der Tarantel gestochen in die Höhe gefahren war, war nackt und funkelte mich wütend an.
»Wer zum Teufel ist das?«
Kitty, die nicht die Spur von Verlegenheit zeigte, zog sich die Decke über ihre vollen Brüste.
»Ach, nur meine Mitbewohnerin. Ich dachte, sie würde den ganzen Tag fortbleiben.«
Der Mann sprang aus dem Bett und fuhr in seine Hose, die zerknüllt auf dem Boden lag. Dabei konnte ich nicht umhin, einen Blick auf sein bloßes Hinterteil zu werfen. Sofort stieg mir die Schamröte in die Wangen, schnell drehte ich mich um. Am liebsten wäre ich einfach davongelaufen, aber meine Beine waren wie gelähmt. Zudem war dies hier ebenso mein Zimmer wie das von Kitty. Der Mann drückte sich an mir vorbei. Dabei streifte er meinen Arm, und ich zuckte zurück.
»Ich hoffe, sie ist keine Schwatzbase!« Zu meinem Entsetzen kniff er mir in die Wange. »Kleine, du bist auch nicht zu verachten. Wenn auch etwas mager für meinen Geschmack. Beim nächsten Mal klopfst du aber vorher an!«
Dann war er so schnell verschwunden, dass ich beinahe dachte, einem Trugbild erlegen zu sein, wären da nicht das zerwühlte Bett und Kittys aufgelöste Haare gewesen.
»Wie kannst du nur!«
Sie lachte und verschränkte die Arme unter dem Kopf.
»Komm, hör auf, hier den Moralapostel zu spielen, Lucille! Es tut mir Leid. Ich dachte, an deinem ersten freien Tag würdest du länger in der Stadt bleiben.«
»Es regnet und stürmt«, murmelte ich, kam dann aber auf den Punkt zu sprechen: »Es tut dir also nur Leid, dass ich euch überrascht habe? Nicht, was du getan hast?«
Kittys Blick war der eines Unschuldsengels.
»Die Menschen haben eben unterschiedliche Auffassungen, wie sie den Sonntag verbringen.«
Vom ersten Tag an hatte ich gespürt, dass Kitty etwas Leichtfertiges anhaftete.
»Werdet ihr heiraten?«, fragte ich.
Ich erntete ein erneutes, diesmal spöttisches Lachen.
»Heiraten? Gott bewahre! Er ist bereits verheiratet und hat fünf schreiende Bälger und eine Frau, die aus dem Stillen nicht mehr herauskommt. Da sucht sich jeder gesunde, kräftige Mann eben anderweitig sein Vergnügen.«
Empört schnappte ich nach Luft. Wären Kitty und dieser Mann ihrer Leidenschaft erlegen und hätten nicht mehr warten können, bis sie vor Gott ein Paar waren, so hätte ich dafür gewisses Verständnis aufbringen können, auch wenn ich es nicht billigte. Meine jahrelange, prüde Erziehung unter Hochwürden Dickens und Harriet Channing war dafür zu tief in mir verwurzelt. Dass sich Kitty aber wie ein leichtes Mädchen einfach so wegwarf, konnte ich nicht akzeptieren.
»Warum tust du so etwas, Kitty?«, fragte ich und setzte mich auf einen Stuhl. »Möchtest du nicht auf den Mann warten, der dich von Herzen liebt und dich zu seiner Frau machen möchte?«
Langsam stand Kitty auf und hatte wenigstens den Anstand, sich einen Morgenmantel überzuziehen. Dann ging sie zum Herd und setzte den Teekessel auf. Um ihre Lippen lag ein wehmütiges Lächeln.
»Ach, Lucille! Ich weiß ja, dass dir das Glück der Liebe versagt bleiben wird.« In ihrer Stimme lag Bedauern, und ich wusste, dass sie auf mein verkürztes Bein
Weitere Kostenlose Bücher