Der Schatz von Dongo
als Sie wieder abgefahren waren.
Deswegen habe ich mich entschlossen, Ihnen zu helfen. Ich finde, Sie
haben alles, was Sie als Entschädigung für Ihre Leiden beanspruchen,
redlich verdient. Obgleich ich das Gefühl habe, Sie spielen ein
verzweifeltes Spiel, das Sie unmöglich gewinnen können.«
Ich blieb auf dem schmalen Pfad stehen und sah sie an. Das
Halblicht unterstrich noch die Traurigkeit in ihrem Gesicht. Was sie
jetzt eben, in diesem Augenblick, gesagt hatte, gab mir zum erstenmal
seit meiner Entlassung aus dem Zuchthaus das Gefühl, wirklich
›draußen‹, wirklich in der ›freien‹ Welt zu sein. Endlich akzeptierte
mich jemand so, wie ich war. Gab mir das Gefühl – jawohl gib's
doch zu! –, ein Mann zu sein. Ich hätte ihr das sehr gern
gesagt, aber es klang zu sonderbar, vielleicht las sie es aber in
meinem Gesicht. Ich ging weiter. So viele Tage und Nächte –
vor allem Nächte – hatte ich ununterbrochen an sie gedacht,
mir vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ich sie wiedersah, unser
Treffen in Como noch einmal durchlebt, mir überlegt, was ich hätte tun
sollen und nicht getan hatte, daß es mir jetzt richtig schwerfiel,
daran zu glauben, sie hier, in diesem duftenden Garten, in Freundschaft
an meiner Seite zu sehen.
»Ich bin nicht sicher, ob das, was ich Ihnen zu sagen habe,
tatsächlich weiterhelfen kann. Im Grunde bezweifle ich es. Immerhin
besteht die Möglichkeit … Also, meine Mutter führte ein
Tagebuch. Solange ich denken kann, setzte sie sich jeden Abend nach dem
Essen hin und schrieb die Tagesereignisse auf, ihre Gedanken, Dinge,
die sie gehört oder gelesen hatte und irgendwie festhalten wollte. Sie
war eine Frau, die sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht
hatte. Manchmal las sie mir aus ihrem Tagebuch vor. Ich weiß noch, wie
sie einmal, an meinem Geburtstag, ihre alten Tagebücher hervorholte und
mir vorlas, was sie an meinen vergangenen Geburtstagen geschrieben
hatte. Sie führte dieses Tagebuch bis zu ihrem Tode. Sie liegen alle in
unserem Haus in Bellagio, Jahre um Jahre, niedergeschrieben in kleinen
Notizbüchern. Das Haus steht seit mehreren Jahren leer, aber ich
glaube, wir könnten sie trotzdem finden. Ich möchte wissen, was sie
während des Zeitraums, da Vater umgebracht wurde, geschrieben hat. Als
er zusammen mit Ihnen in der Villa wohnte, rief er sie jeden Tag an, an
manchen Tagen sogar zweimal. Ich weiß noch, wie sehr sie auf die Anrufe
gewartet hat. Manchmal, wenn er es nicht eilig hatte, unterhielt er
sich auch mit mir. Ich hatte diese Tagebücher völlig vergessen, aber
jetzt frage ich mich, ob sie nicht doch etwas enthalten, was Ihnen
helfen kann.«
»Ich würde sie sehr gern sehen.«
»Bellagio ist nur eine Stunde von hier. Wir brauchen nicht
ganz um den See herumzufahren, wir können den Wagen in Cadenabbia
stehenlassen und mit der Fähre übersetzen.«
»Warum behalten Sie das Haus in Bellagio, wenn es doch leer
steht?«
»Warum? Weil es für mich Familie bedeutet. Verstehen Sie das?
Es steht für alles, was mir geblieben ist. Früher habe ich oft gedacht,
daß ich es eines Tages selber bewohnen könnte …«
»Eines Tages … aber nicht allein?«
»Ja. Aber da ist noch eine Sache, die ich erwähnen sollte, ein
weiterer Grund für mein Herkommen. Das Treffen in Como löste in mir
eine Flut von Gefühlen aus, die ich seit langem begraben glaubte. Zu
meinem Erstaunen waren sie jedoch noch immer lebendig, und nun begannen
sie mich wieder zu quälen, zu beunruhigen. Es ist eine emotionale
Torheit, die ich verabscheue, aber sie existiert nun einmal, ist wieder
in mir aufgeflammt. Ich muß wissen, wer den Mord an
meinem Vater begangen hat. Nach all diesen Jahren sollte man eigentlich
denken …«
»Ich weiß. Die Jahre, die ich vor meinem Prozeß im Gefängnis
zubrachte, waren erfüllt von Rachegedanken …«
»Ich weiß nicht recht, ob es Rachsucht ist. Vielleicht ist es
ganz einfach Neugier, vielleicht ist es einfach die Ungewißheit.
Solange ich annehmen konnte, daß Sie der Mörder sind … Aber
das kann ich jetzt nicht mehr. Und als Entschädigung für meine Hilfe
beim Schatzsuchen – mehr wollen Sie ja nicht von
mir – müssen Sie mir helfen, herauszufinden, wer der Mann oder
die Männer waren, die ihn ermordet haben.«
Mein Vertrag mit Gibio! Das Versprechen, das ich mir selber
gegeben hatte! Keine Rachegedanken zu hegen! Aber ich durfte sie nicht
verlieren, weil ich ihre Hilfe, ihre Gegenwart brauchte. Durfte
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