Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Polizei die Fragen, aber dazu kommen wir später. – Ich bin gewiss nicht der erste Mann, der diese Kammer aufgesucht hat. Wenn Sie Marie Stevens kannten, dann werden Sie auch wissen, welchem Gewerbe sie nachging, Fräulein Dierks. Ansonsten führt mich mein Beruf in diese triste Räumlichkeit. Maria Stevens ist tot, und ich schaue mich nach Hinweisen auf ihren Mörder um.«
Mit allem hatte Anna gerechnet, aber nicht mit einer solchen Eröffnung. Sie spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Ihre Knie wurden weich wie Butter. Sie musste sich auf das schmale Bett setzen.
»Aber wie ... warum? Wann ist das geschehen, Offiziant Boysen?«
»In der vorigen Nacht, im Hafen. Wir haben erste Hinweise auf den Mörder, konnten aber seine Identität noch nicht ermitteln. – Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu der Toten standen, Fräulein Dierks?«
»Ich kannte sie gar nicht.«
Boysen schnaubte verächtlich. »Und warum kannten Sie Marie Stevens' Vornamen? Sie haben ihn gerufen, bevor sie das Zimmer betraten.«
»Der Name steht auf meiner Liste.«
Mit diesen Worten holte Anna das Blatt Papier aus ihrer Handtasche und überreichte es dem Polizisten. Doch Boysens Reaktion irritierte sie. Während er sich das Dokument näher anschaute, begann er zu grinsen.
»Was ist so lustig an meiner Liste, wenn ich fragen darf?«
»Entschuldigen Sie, Fräulein Dierks. Ich hatte mich nur über Ihr Komitee zur Rettung gefallener Mädchen amüsiert.«
Anna stampfte empört mit dem Fuß auf, was so gar nicht ihrer zurückhaltenden Art entsprach. Aber dieser Boysen brachte sie einfach auf die Palme.
»Was ist denn daran komisch, Offiziant Boysen? Wir sehen es als unsere christliche Verpflichtung an, diese armen Geschöpfe aus dem Sumpf der Sündhaftigkeit zu ziehen.«
»Und wovon sollen die Mädchen leben, wenn sie keine Freier mehr empfangen?«
»Sie können ... sie sollten ... also was ist das für eine Frage? Die Mädchen heiraten einen ehrlichen Mann und gründen eine Familie!«
»Dann muss dieser Mann aber auch genug verdienen, um eine Familie zu ernähren. Wo wollen Sie solche Männer finden? Bestimmt nicht hier im Gängeviertel, wo die Leute für einen Hungerlohn schuften müssen. – Die meisten Mädchen verkaufen sich nicht, weil sie so gerne sündigen, sondern weil sie sich auf diese Art ihren Lebensunterhalt bestreiten.«
»Das ist aber verwerflich!«
»Kann man leicht sagen, wenn man mit dem Goldenen Löffel im Mund geboren worden ist«, murmelte Boysen leise.
Aber Anna hörte seine Bemerkung trotzdem.
Er fuhr fort: »Ich weiß jetzt aber immer noch nicht, wie Marie Stevens Name auf diese Liste kam.«
»Auf der Liste sind Frauen verzeichnet, die irgendwann einmal mit der Inneren Mission in Kontakt gekommen sind. Wir besuchen sie zu Hause, sprechen mit ihnen, schenken ihnen Exemplare der Heiligen Schrift ...«
» ... und singen wahrscheinlich noch ein paar Choräle«, spottete Boysen.
Nun platzte Anna endgültig der Kragen, und sie vergaß jede Vorsicht. »Sie mögen unsere christliche Nächstenliebe lächerlich finden, Offiziant Boysen. Aber das, was Sie getan haben, ist im äußersten Grade verwerflich. Und dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen!«
»Was habe ich denn getan?«, fragte Boysen. Er machte keinen verängstigten Eindruck.
»Ich selbst war Zeugin, wie Sie einen Mann brutal misshandelt haben, vor ungefähr einer Stunde in einer Toreinfahrt am Vorsetzen.«
»Dort bin ich nicht gewesen«, meinte Boysen ruhig. »Zu der Zeit war ich auf der Brooktor-Wache. Das können mindestens fünf von meinen Constablern bezeugen.«
Annas Wangen brannten vor Empörung. Sie war nun wild entschlossen, Boysen wirklich anzuzeigen. Sie glaubte diesem unmöglichen Menschen kein Wort. Der Offiziant ignorierte sie einstweilen und begann damit, Marie Stevens wenige Habseligkeiten zu durchsuchen.
»Wir wissen nicht, ob das Opfer den Mörder vor der Tat gekannt hat.«
Anna wusste nicht, ob Boysen laut nachdachte oder zu ihr sprach.
»Wenn der Mann die junge Frau zufällig traf, erschwert das unsere Ermittlungen ungemein.«
Anna war durcheinander. Falls Boysen sich vor ihrer Anzeige fürchtete, ließ er sich das jedenfalls überhaupt nicht anmerken. Nun spuckte er auch noch Tabaksaft auf den Boden! Dieser Mensch war wirklich unmöglich!
Annas Vater und dessen Freunde aus der besseren Blankeneser Gesellschaft vertraten die Auffassung, dass die Hamburger Polizisten nicht viel besser waren als die Verbrecher,
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