Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Tanzvergnügungen versessen wie viele ihrer Altersgenossinnen. Aber Anna wusste natürlich, dass sie sich im gesellschaftlichen Leben sehen lassen musste, wenn sie eine gute Partie machen wollte. Insgeheim wünschte sich Anna einen Gemahl an ihrer Seite, mit dem sie geistreiche Gespräche führen konnte und der auch Verständnis für ihren starken Glauben sowie für ihr Engagement für die Ärmsten aufbrachte.
»Dort steht Konsul Mohnhaupt, Fräulein Dierks. Seine Tabakgroßhandlung wird noch in diesem Jahr an die Börse gehen, heißt es«, raunte Paul Schröder Anna zu. Kam es ihr nur so vor, oder wurden seine großen Ohren vor Aufregung noch röter?
Annas Lächeln verkrampfte sich. In diesem Moment schien es ihr schwer vorstellbar, dass einer dieser Hamburger Kaufmannssöhne ihr Bräutigam werden konnte. Das Denken dieser Männer kreiste lediglich um Soll und Haben, Frachtraten, Tonnage und Stückgut. Allenfalls Segeln, Tennis oder das Polospiel waren noch Themen, für die man sie begeistern konnte. Aber wenn sie Paul Schröder gegenüber erwähnte, dass sie sich noch am Vortag im Gängeviertel aufgehalten und dort sogar eine Leiche gesehen hatte, würde sie nur ein gleichgültiges Achselzucken ernten. Darüber machte sich Anna keine Illusionen.
Aber sie musste ja Paul Schröder nicht heiraten, nur weil er sie auf den Sommerball des Blankeneser Yachtclubs begleitete. Nachdem die junge Frau sich diesen Zusammenhang vor Augen geführt hatte, fühlte sie sich sofort besser.
Der Kutscher lenkte den Tilbury zu einem großen Abstellplatz am Fuß des Süllbergs. Anna und der Kaufmannssohn betraten das Gelände des Yachtclubs. Es befand sich direkt an der Elbe. Das pavillonartige Hauptgebäude war von unzähligen bunten Papierlampions illuminiert, was angesichts der Dunkelheit einen sehr schönen Lichteffekt ergab.
Anna blieb einen Moment stehen, um die Aussicht zu genießen. Die vertäuten Segelboote schaukelten auf der leichten Dünung des großen Flusses. In weiterer Entfernung vom Ufer fuhr ein dampfgetriebenes Passagierschiff elbabwärts. Aus hunderten von Bullaugen leuchtete warmes Licht. Außerdem blinkten die grünen Positionslaternen der Steuerbordseite.
»Ist das nicht schön?«, seufzte Anna.
»Ja, es handelt sich um den Doppelschrauben-Schnelldampfer Auguste Victoria der HAPAG-Reederei«, bestätigte Paul Schröder. »7.661 Bruttoregistertonnen, wenn mich nicht alles täuscht. Vermutlich ist sie mit einem Haufen Auswanderergesindel auf dem Weg nach New York.«
Anna war empört über die Worte ihres Begleiters. »Erlauben Sie mal, Herr Schröder – das sind Christenmenschen wie wir. Viele von ihnen haben ein schweres Schicksal.«
»Die sind zu faul zum Arbeiten, schätze ich. Außerdem gibt es etliche Juden unter ihnen«, murmelte der junge Mann. »Aber zerbrechen Sie sich Ihr hübsches Köpfchen nicht über solche unangenehmen Dinge, Fräulein Dierks.«
Anna hätte den segelohrigen Flegel am liebsten stehenlassen. Aber sie konnte es sich nicht leisten, auf dem Sommerball des Jachtclubs einen Skandal vom Zaun zu brechen. Ihre Eltern würden wochenlang kein Wort mit ihr reden, und ihr Engagement für das Komitee zur Rettung gefallener Mädchen würde sie ebenfalls einstellen müssen. Also blieb ihr nichts anderes übrig als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Wären Sie wohl so liebenswürdig, mir eine alkoholfreie Erfrischung zu besorgen, Herr Schröder?«, wandte sich Anna mit zuckersüßer Stimme an ihren Begleiter.
Der Kaufmannssohn wackelte servil mit seinen Ohren – oder kam ihr das nur so vor? Auf jeden Fall bahnte er sich seinen Weg durch die Menge der Tanzenden im Clubhaus, das sie inzwischen erreicht hatten. Eine Combo spielte beliebte Operettenmelodien von Jacques Offenbach und Karl Millöcker.
Anna erblickte von Weitem einige ihrer Freundinnen. Aber sie hatte keine Lust auf oberflächliche Plaudereien. Es war schon schlimm genug, den ganzen Abend an der Seite von Segelohr Schröder verbringen zu müssen.
Die junge Frau wusste, dass eine gewisse Judenfeindlichkeit in ihren Kreisen weit verbreitet war – und eine Verachtung für die unteren Stände der Gesellschaft galt ohnehin als selbstverständlich. Anna war immer noch der festen Überzeugung, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Doch sie wusste auch, dass sie mit ihrer Meinung lediglich ein mitleidiges Lächeln erzeugen konnte – denn sie war ja nur ein Mädchen.
Falls eines Tages auch Frauen das Parlament wählen
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