Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
die Frau sterben musste, war der verrückte Russe im Inneren des Dampfkessels gewesen. Das konnte Boysen höchstpersönlich bezeugen.
»So ein Schiet! Ich schaue mir die Leiche an, und dann gehe ich zum Stadthaus.«
Constabler Tobergte zuckte mit den Schultern.
»Inspector Lanke wird ungeduldig sein.«
Das wusste Boysen selbst, aber es war ihm egal. Er ließ sich einen Lappen geben und säuberte notdürftig sein Gesicht. Auf der dunkelblauen Uniform fielen die Blutflecken kaum auf, wenn man nicht genau hinsah.
Boysen ging von Bord, hielt einen Pferdewagen an, der Richtung Johannisbollwerk fuhr, und setzte sich neben den Kutscher. Der Offiziant weinte Pjotr keine Träne nach. Der verrückte Russe hatte versucht, ihn abzumessern. Dafür hatte der Kedelklopper seine Quittung bekommen. Viel schlimmer fand Boysen, dass er offenbar hinter dem falschen Mann hergewesen war. So war wertvolle Zeit vergeudet worden.
Beim Johannisbollwerk sprang Boysen ab und eilte zum Leichenfundort, der von Constablern der Billdeich-Wache abgesperrt worden war. Schon ein flüchtiger Blick auf die Tote reichte Boysen. Hier hatte wieder der Schauermann zugeschlagen, der seinen Opfern die Halsschlagader zerfetzte. Und dafür hatte der Hundesohn kein Messer benötigt. Das konnte man deutlich erkennen. Dem Offizianten lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Er hatte sinnlos Zeit damit vertan, einem falschen Hinweis nachzugehen. Das konnte zwar bei der Polizeiarbeit immer wieder passieren, aber dieser Fall lag anders. Die Uhr arbeitete gegen ihn. Boysen musste dringend den Mädchenmörder von den Hamburger Straßen kriegen.
Der Offiziant verließ den Hafen, lief über die Brücke bei St. Annen und erwischte eine Pferde-Straßenbahn Richtung Stadthaus. Im Hauptquartier des Constabler Corps wurde er bereits ungeduldig erwartet.
»Da sind Sie ja endlich!«, blaffte Inspector Lanke schlecht gelaunt. »Wie sehen Sie überhaupt aus? Sie sind eine Schande für die Hamburger Polizei, Boysen!«
Boysen salutierte und berichtete im Telegrammstil von seiner Auseinandersetzung mit dem verrückten Russen und von dessen Tod. Sein Vorgesetzter rang ungeduldig die Hände. Der Offiziant war sich darüber im Klaren, dass er wegen Pjotrs unrühmlichem Ende keinen Ärger bekommen würde. Ob ein dahergelaufener Kedelklopper lebte oder starb, war den meisten Hamburgern herzlich egal, die Ordnungsmacht eingeschlossen.
»Haben Sie endlich Ergebnisse vorzuweisen?«, bohrte Inspector Lanke nach.
»Einer unserer Polizeispitzel war auf diesen Pjotr aufmerksam geworden«, verteidigte Boysen sich. »Die Spur verlief ins Leere, aber ich habe noch einen weiteren Hinweis ...«
»Dann bewegen Sie sich, Mann!« Von Lankes Freundlichkeit bei dem vorherigen Gespräch war nichts mehr übrig geblieben. Nun bot der Inspector dem Offizianten auch keine Zigarre mehr an. »Das einfache Volk ist schon halb verrückt vor Angst. Einerseits die Cholera, andererseits dieser Frauenmörder – das ist zu viel. Wir haben einfach zu wenig Beamte. Ich muss heute jeden verfügbaren Mann auf die Straße schicken, um Handzettel zu verteilen.«
»Handzettel?«, wiederholte Boysen dümmlich.
Lanke rollte genervt mit den Augen. »Handzettel mit Anweisungen, wie sich die Bevölkerung angesichts der Cholera-Epidemie verhalten soll«, erläuterte der Vorgesetzte. »Kein Wasser trinken, das nicht vorher abgekocht wurde und so weiter.«
Lanke hielt Boysen eines der bereits gedruckten Flugblätter unter die Nase. Dort stand geschrieben:
Bekanntmachung
Vor dem Genuss ungekochter Speisen,
namentlich Elb- und Leitungswasser sowie ungekochter
Milch wird dringend gewarnt.
Die Cholera-Commission des Senates
»Cholera-Commission? Sieht der Senat inzwischen ein, dass sich die Seuche wie ein Lauffeuer in Hamburg verbreitet?«
Diese spitze Bemerkung konnte sich Boysen nicht verkneifen.
»Verzapfen Sie hier keine sozialistische Propaganda, sondern fangen Sie lieber den Dirnenmörder!«, schnaubte Lanke.
Der Offiziant salutierte abermals und verließ das Dienstzimmer des Inspectors auf dem schnellsten Weg.
Am Neuen Wall sah Boysen einen großen Tankwagen, aus dem städtische Bedienstete Wasser zapften und verteilten. Einige Udels mussten den Männern in weißen Kitteln beistehen, um dem Andrang von Durstigen Herr zu werden. Der Offiziant stellte fest, dass ein durchdringender Geruch nach Karbol, Lysol und Kalk über der Innenstadt lag. Immerhin war erkennbar, dass die
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