Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Seuchenbekämpfung allmählich losging. Allerdings viel zu spät, wie Boysen fand. Aber für seine Meinung interessierte sich ja sowieso niemand. Darüber machte er sich keine Illusionen.
Am Jungfernstieg nahm der Offiziant die Pferde-Straßenbahn nach Blankenese. Je weiter er aus der Stadt heraus kam, desto seltener wurde der Anblick von Kalkkolonnen und Leichenwagen im Straßenbild.
Blankenese war ein ehemaliges Fischerdorf am Elbufer, das sich immer stärker zu einem noblen Villenvorort entwickelte. Boysen, der ansonsten kein glühender Anhänger der Monarchie war, wusste in diesem Fall die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 zu schätzen – und zwar aus dienstrechtlichen Gründen. Zuvor hatte nämlich Blankenese zu Schleswig-Holstein beziehungsweise zu Preußen gehört, und er hätte als hamburgischer Udel in Blankenese überhaupt nichts ausrichten können.
Nun aber, nach der Reichsgründung, konnte er selbstverständlich auch in Blankenese eine Verhaftung vornehmen. Aber so weit war es noch lange nicht, darüber machte er sich keine Illusionen. Der Manschettenknopf in seiner Tasche war ein äußerst dürftiger Beweis für die Verstrickung in eine Straftat.
Aber das Corpus Delicti war alles, was der Offiziant momentan vorzuweisen hatte.
Boysen kannte sich in dem noblen Elbvorort nicht besonders gut aus. Trotzdem fand er schnell die Anschrift von Carl Lütke. Der junge Mann wohnte laut Hamburger Adressbuch bei seinen Eltern am Blankeneser Strandweg.
Der Udel blieb einen Moment lang vor dem weitläufigen Anwesen stehen. Hinter einem hohen schmiedeeisernen Zaun stand inmitten eines parkähnlichen Gartens eine prächtige weiße Villa. Boysen umklammerte zwei Zaunstangen, wobei er sich einen Moment lang fühlte wie ein Sträfling hinter Gittern. Es war ein weiter Weg von diesem herrschaftlichen Gebäude bis zu den Elendsquartieren des Gängeviertels, nicht nur geografisch. Von der Villa aus hatte man einen unverbaubaren Panoramablick auf den breiten Elbstrom. Es herrschte eine Atmosphäre von Gediegenheit und Wohlstand. Es schien absurd, hier nach dem blutrünstigen Schauermann zu fahnden.
Boysen gab sich einen Ruck und eilte den kiesbestreuten Weg hinauf, nachdem er das Tor geöffnet hatte. Er läutete am Portal.
Ein Diener in Livree öffnete dem Udel. Boysen salutierte und fragte nach Carl Lütke.
Der Lakai musterte den Offizianten, als ob dieser ein Stück Hundedreck an seinem Lackschuh wäre.
»Ich bedaure unendlich, aber der junge Herr ist nicht zu sprechen.«
»Ist er noch nicht aufgestanden?«, fragte Boysen, der über die Lebensgewohnheiten von stinkreichen Berufssöhnen bestens informiert war.
»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«
»Sehr schade.« Boysen machte einen schnellen Schritt seitwärts und drängte sich an seinem Gegenüber vorbei in die Eingangshalle. »Es wäre gut, wenn ich mit jemandem sprechen könnte. Sonst müsste ich nämlich mit Verstärkung zurückkehren und das ganze Haus auf den Kopf stellen.«
Der Diener warf Boysen einen vernichtenden Blick zu. Das quittierte dieser, indem er seine Priemdose hervorholte und sich ein Stück Kautabak in den Mund schob.
»Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen«, brachte der Lakai hervor und verdrückte sich in den Zimmerfluchten des weitläufigen Hauses.
Boysen blieb in der Halle stehen. Ob er auf den Boden spucken sollte? Er beschloss, den Bogen nicht zu überspannen. Diese Geste konnte er sich immer noch für später aufsparen.
Der Eingangsbereich der Villa war mit einigen griechisch-römisch anmutenden Marmorstatuen bestückt, wie sie dem Geschmack der hanseatischen Patrizier entsprachen. Boysen konnte sich ein verächtliches Grinsen nicht verkneifen. Die Skulpturen sollten die erlesene Bildung ihres Besitzers symbolisieren. Aber die Lütke-Sippe war natürlich nicht durch profunde Kenntnisse antiker Kultur reich geworden.
Damit kein Zweifel aufkam, woher der Clan sein Geld hatte, waren die Wände der Empfangshalle außerdem mit Ölgemälden geschmückt. Und diese Bilder stellten Schiffe dar – Vollschiffe und Viermastbarken, Dampfer und Briggs. Die Familie Lütke nannte eine ehrfurchtgebietende Anzahl von Bruttoregistertonnen ihr Eigen. Boysen tat schon lange genug im Hafen Dienst, um das beurteilen zu können. Er hatte es hier mit einer der reichsten Sippen der Hansestadt zu tun.
Boysen spielte mit seinem Dienststock. Er schritt auf und ab und betrachtete die Darstellungen, als wäre er ein Museumsbesucher.
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