Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Kurzzeitig färbte sogar die in dem Haus vorherrschende Stimmung von Reichtum und Sorglosigkeit ein wenig auf ihn ab. Aber der Offiziant wusste, dass das nur eine Illusion war. Er würde niemals zu diesen erlesenen Kreisen gehören, auch in 1.000 Jahren nicht.
Jemand räusperte sich hinter ihm.
Boysen drehte sich um. Ohne dass er es bemerkt hatte, war ein Herr zu ihm in die Eingangshalle getreten. Der Diener blieb unter einem Türbogen stehen und verkündete: »Kommerzienrat Theodor Lütke gibt sich die Ehre.«
Diese Bemerkung war eigentlich unnötig gewesen. Boysen war sich vollkommen im Klaren darüber, den Hausherrn vor sich zu haben – das momentane Oberhaupt der Lütke-Sippe.
Theodor Lütke strahlte eine natürlich Autorität aus, obwohl er körperlich wenig imposant wirkte. Doch eine Aura von Macht und Gefährlichkeit umgab den Reeder. Boysen musste sich widerwillig eingestehen, dass auch er selbst sich dieser Ausstrahlung nicht widersetzen konnte.
Der Hausherr trug einen cremefarbenen Leinenanzug. Das Jackett besaß schmale Revers, die Hose wies eine messerscharfe Bügelfalte auf. Die Lackstiefel waren mit weißen Gamaschen versehen. Theodor Lütkes Gesicht hatte etwas Fuchsartiges an sich, wie Boysen fand. Hinter den Gläsern einer randlosen Brille blitzten intelligente Augen, vor deren Blick man sich fürchten konnte.
Theodor Lütke öffnete den Mund. »Ich bin ein alter Mann. Ich erinnere mich an eine Zeit, als die Polizeidiener der Stadt Hamburg noch saubere Uniformen trugen.«
Während der Reeder sprach, schaute er Boysen nicht ins Gesicht, sondern auf die getrockneten Blutflecken auf dem Waffenrock.
Boysen nahm den Fehdehandschuh auf. Mit einer herausfordernd lässigen Bewegung führte er seine Hand an den Helmrand. »Ich bin Offiziant Lukas Boysen vom Hamburger Constabler Corps, Herr Kommerzienrat. Ich bedaure unendlich, Ihnen den Anblick meiner beschmutzten Montur zumuten zu müssen. Wenn ich Ihren Herrn Sohn sprechen dürfte, könnte ich Sie sogleich von der Belästigung durch meine Gegenwart befreien.«
Theodor Lütke lachte leise. Es klang, als ob Kiesel am Elbstrand gegeneinander stießen.
»Ich würde nicht so weit gehen, von einer Belästigung zu sprechen. Dennoch wüsste ich gerne, was ein Polizeidiener von meinem Sohn will.«
Boysen erwiderte nichts. Einen Moment lang starrte er den einflussreichen Reeder nur an. Dann spuckte er auf den Boden, ohne Theodor Lütke dabei aus den Augen zu lassen. Der Lakai rang nach Luft, und dem Hausherrn kam seine Fassade ironischer Gönnerhaftigkeit abhanden, jedenfalls kurzzeitig.
»Wie können Sie es wagen ...?«, begann er, doch Boysen schnitt ihm das Wort ab.
»Was für ein Benehmen erwarten Sie denn von einem Polizeidiener?«, fragte Boysen mit gespielter Verständnislosigkeit.
Daraufhin begann der Reeder erneut zu lachen. »Touché, Herr Offiziant. – Kommen Sie in mein Privatkontor, dort lässt es sich ungestörter reden. Ich hoffe darauf, dass Sie meine Perserteppiche dort nicht mit Ihrem Tabaksaft tränken wollen.«
»Das lässt sich einrichten«, gab Boysen kühl zurück. Er ließ sich von Lütkes plötzlicher Freundlichkeit nicht hinter das Licht führen. Die reichen Hamburger Patrizier verabscheuten Polizisten beinahe ebenso sehr wie Verbrecher. Dieser Tatsache war sich der Offiziant vollkommen bewusst. Lütke führte Boysen in einen Raum, dessen vier Wände ausschließlich mit wohl gefüllten Bücherregalen bedeckt waren. Inmitten des Zimmers stand ein großer Schreibtisch aus Eichenholz, hinter dem der Reeder sofort Platz nahm. Er deutete einladend auf einen filigranen Besucherstuhl, aber Boysen schüttelte den Kopf.
»Nein, danke, Herr Kommerzienrat. Ich will Ihre Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Wenn ich mit Ihrem Sohn Carl sprechen dürfte ...«
Boysen beendete den Satz nicht. Noch während er sprach, hatte Lütke begonnen, den Kopf zu schütteln. So, als wäre Boysen ein uneinsichtiges Kind, dem man die einfachsten Dinge dreimal erklären muss.
»Sie können meinen Sohn nicht sprechen, Herr Offiziant.«
»Und warum nicht, Herr Kommerzienrat?«
»Weil ich es nicht wünsche.«
Boysen atmete tief durch. »Ich leite eine kriminalistische Untersuchung. Es geht um mehrere Bluttaten, die an jungen Frauen verübt wurden.«
»Was soll Carl damit zu tun haben?«, fragte Lütke. Es klang, als ob dieser Gedanke völlig absurd wäre.
»Wir haben einen Hinweis auf Ihren Sohn gefunden. Sonst wäre ich nicht hier,
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