Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
attraktiv aus, wie sich Boysen eingestehen musste. Ein breitkrempiger Hut sowie ein Sonnenschirmchen schützten ihren blassen Teint vor der inzwischen schon tief stehenden Sonne.
»Guten Abend, Fräulein Dierks«, erwiderte Boysen und legte seine Rechte grüßend an den Helmrand. Anna blinzelte ihn interessiert an.
»Glauben Sie an Zufälle, Offiziant Boysen? Ich war heute in Gedanken sehr stark mit diesen grässlichen Bluttaten beschäftigt, an deren Aufklärung Sie arbeiten. Darf ich fragen, ob das Corpus Delicti Sie bei Ihren Ermittlungen weiter gebracht hat?«
»Sie dürfen, Fräulein Dierks«, stieß Boysen hervor. Er spuckte Tabaksaft ins Wasser. »Ich habe jetzt einen Hauptverdächtigen. Aber das spielt keine Rolle, weil vermutlich ein anderer Mann für die Morde hängen wird!«
Anna schnappte nach Luft. Wieder einmal war sie schockiert über Boysens rüde Umgangsformen und seine patzige Antwort. Doch gleichzeitig wurde ihr auch die Verzweiflung und Hilflosigkeit des Offizianten bewusst. Daher blieb die junge Frau freundlich. Sie hakte sich sogar bei Boysen ein, ohne dass sie den Grund dafür hätte nennen können.
»Warum gehen wir nicht ein Stück am Strand spazieren und Sie berichten mir von dem, was geschehen ist? Natürlich nur, wenn Sie dadurch Ihre Dienstpflichten nicht verletzen.«
»Meine Dienstpflichten sind mir scheißegal«, knurrte Boysen grob. Aber er sagte sich, dass Anna keine Schuld an seinem momentanen Debakel traf. Im Grunde war er sogar froh, dass er einmal jemandem sein Herz ausschütten konnte. Das war Boysen nämlich keineswegs gewohnt. Normalerweise behielt er seine Gedanken lieber für sich. Aber an diesem Sommerabend an der Elbe befand er sich in einer ganz besonderen Stimmung.
Boysen kam sich vor wie ein Katholik bei der Beichte, als er mit seiner Erzählung begann. Er berichtete Anna von dem Goldschmied, von seiner Begegnung mit dem Reeder Lütke, von Golodins Verhaftung und von dem strikten Verbot, auch nur in die Nähe von Carl Lütke zu kommen. Anna hörte aufmerksam zu. Sie spürte, dass der Offiziant die Wahrheit sagte und mit nichts hinter dem Berg hielt, während er mit langsamen Schritten an ihrer Seite durch den Sand stapfte.
»Sie dürfen ruhig rauchen, wenn Sie mögen, Offiziant Boysen.«
»Verbindlichsten Dank, Fräulein Dierks.«
Der Polizeibeamte steckte sich eine ovale türkische Zigarette zwischen die Lippen und riss mit geschickten Bewegungen ein Streichholz an. Trotz der permanenten Brise bekam er den Tabak zum Brennen. Die kurze Pause, die dadurch entstand, gab Anna die Gelegenheit, über das Gesagte nachzudenken. Boysen war ehrlich zu ihr gewesen, daran hatte sie keinen Zweifel. Nun wollte sie ihm ebenfalls reinen Wein einschenken.
»Dieser verdächtige junge Mann, Carl Lütke ... ich kenne ihn nicht persönlich, Offiziant Boysen. Aber ich habe einige Dinge über ihn gehört«, erklärte Anna.
Sie teilte dem Polizisten das mit, was sie aus der betrunkenen Plauderei der drei jungen Männer auf dem Sommerball in Erinnerung behalten hatte. Natürlich verschwieg sie dem Offizianten, wie sie an diese Informationen gelangt war. Schließlich gehörte es sich für eine Dame nicht, einfach zu lauschen. Aber Boysen schien sich nicht über die Neuigkeiten zu wundern, die er mit einem stetigen Kopfnicken quittierte. Seine Stimme klang bitter, als er antwortete.
»Carl Lütke ist also ein Hurenbock, wie er im Buche steht. Es scheint festzustehen, dass er sich öfter im Gängeviertel oder auf St. Pauli herumtreibt. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich darüber aufgeklärt haben. Aber leider nützt es mir nichts. Ich darf nicht gegen Carl Lütke ermitteln. Falls ich es doch tue, werde ich meine Stellung verlieren und in hohem Bogen aus dem Constabler Corps fliegen.«
»Sie können nicht ermitteln, Offiziant Boysen – aber ich!«
Der Udel sah die Begeisterung auf Annas Gesicht. Er wusste nicht, was er von ihrem Einfall halten sollte.
»Sie?«, vergewisserte er sich ungläubig.
»Gewiss, Offiziant Boysen. Trauen Sie mir das nicht zu, nur weil ich eine Dame bin?«
Boysen schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich daran, wie tapfer Anna bei der Bedrohung durch den aufgebrachten Lynchmob gewesen war.
»Das ist nicht der Grund, Fräulein Dierks. Aber wenn Carl Lütke wirklich für diese Morde verantwortlich sein sollte, dann sorge ich mich um Ihr Leben.«
»Ich muss ihn ja nicht gleich verhaften.« Diese Vorstellung ließ Anna in ein backfischhaftes Kichern
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