Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
ausbrechen. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie keine Möglichkeit, in das Haus der Lütkes einzudringen. Nun, meine Eltern und die Familie Lütke verkehren in denselben Kreisen. Ich selbst hätte also die Gelegenheit, mich dort einmal unauffällig umzusehen.«
»Wirklich? Das wäre eine große Hilfe für mich, Fräulein Dierks. Aber Sie müssen vorsichtig sein. Wenn Ihnen dort drin etwas geschieht, können Sie nicht auf polizeiliche Hilfe hoffen. Theodor Lütke hat es verstanden, seine Villa zu einer uneinnehmbaren Festung zu machen.«
»Aber gegen weibliche List ist auch er machtlos«, versicherte Anna lächelnd. »Wie kann ich Sie erreichen, Offiziant Boysen? Ihre Vorgesetzten dürfen nichts von unserem kleinen Komplott erfahren, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
»So ist es.« Boysen riss eine Seite aus seinem Notizbuch, kritzelte seine Privatadresse darauf und gab Anna das Blatt. »Dort wohne ich. Meine Vermieterin gestattet keine Damenbesuche auf meinem Zimmer, aber in der Küche von Frau Borchers können wir uns treffen, sozusagen auf neutralem Boden. Falls ich nicht daheim bin, können Sie mir dort auch eine Nachricht hinterlassen. Meine Vermieterin ist schrecklich neugierig, aber zuverlässig. Sie wird keine Notizen von Ihnen unterschlagen.«
Anna nickte und schob den Zettel in ihre Handtasche. »Es muss schrecklich für Sie sein, dass Ihnen die Hände gebunden sind, bildlich gesprochen.«
Boysen ließ ein grimmiges Grinsen sehen. »Ja, angenehm ist das nicht. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Die Villa Lütke mag mir versperrt sein – aber die gesamte Stadt Hamburg ist mein Jagdrevier. Und dort werde ich den Mörder stellen, früher oder später. – Aber es ist wirklich gut, nun eine Verbündete zu haben.«
Boysen hätte selbst nicht sagen können, warum er Anna gegenüber plötzlich so offen war. Normalerweise ließ er sich nicht gern in die Karten schauen. Aber dieser jungen Frau, die er anfangs für eine wirklichkeitsfremde Betschwester gehalten hatte, vertraute er.
Anna schaute in Boysens wettergegerbtes Gesicht. Sie war insgeheim sehr stolz darauf, dass der Offiziant ihre Hilfe annehmen wollte. Anna fand den Gedanken unerträglich, dass ein Mörder weiterhin frei herumlaufen durfte, nur weil sein Vater ein einflussreicher Mann war. Gewiss, noch gab es keinen handfesten Beweis gegen Carl Lütke. Aber wenn der junge Mann unschuldig war, hatte er von der Justiz auch nichts zu befürchten. Das war jedenfalls Annas Meinung. Sie begriff, dass Boysen bei seiner Jagd nach dem Mörder bisher völlig allein gestanden hatte. Die einzige Unterstützung, auf die er hoffen konnte, war sie selbst.
»Ich werde gleich am morgigen Tag meine Fühler in Richtung Familie Lütke ausstrecken«, versprach Anna. »Vielleicht sogar noch heute Abend. Ich habe da so eine Idee ...«
»Versprechen Sie mir etwas?«, fragte Boysen. Anna schaute ihn fragend an.
»Ich habe gesehen, dass Sie mit einem Revolver umgehen können. Ich bitte Sie, eine der Waffen Ihres Vaters mitzunehmen, wenn Sie sich im Hause Lütke umsehen. Wenn wir wirklich den Mörder jagen, können wir keine Gnade erwarten. Also knallen Sie ihn nieder wie einen tollen Hund, wenn er Sie bedroht.«
Anna riss ihre schönen Augen auf. Über diese Konsequenzen ihres Detektivspiels hatte sie sich offenbar noch keine Gedanken gemacht. Aber dann nickte sie langsam.
»Ja, Offiziant Boysen. Das ist gewiss das Beste. Wie steht es schon im Alten Testament geschrieben? Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Boysen war zufrieden, als er sich von der jungen Blankeneserin verabschiedet hatte und den Rückweg antrat. Natürlich sorgte er sich um das Leben seiner Komplizin. Er musste einfach darauf vertrauen, dass Carl Lütke nicht so wahnsinnig sein würde, in seinem eigenen Elternhaus eine Frau zu meucheln. Außerdem wusste Anna, mit was für einem brutalen Täter sie es zu tun bekam. Schließlich hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wozu der Dreckskerl fähig gewesen war.
Der Offiziant kehrte allerdings noch nicht in sein Untermietzimmer zurück. Die Begegnung mit Anna hatte seinen Tatendrang erneut geweckt. Boysen begriff, dass er nicht als einsamer Wolf die Hyäne zur Strecke bringen konnte. Er benötigte weitere Unterstützung, die er innerhalb des Constabler Corps nicht finden konnte. Wenn Boysen seine Männer nach Carl Lütke Ausschau halten ließ, würde Inspector Lanke davon im Handumdrehen Wind bekommen. Und dann wäre es nicht nur mit
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