Der Scheich
oder saßen die Araber dicht vor dem Eingang in kleinen Gruppen beisammen und sprachen ernst miteinander. Zwischen den Palmen am Rand der Oase entdeckte Diana mehrere Reiter. Yusef und seine Männer wollten nichts riskieren, denn es bestand immer noch die Gefahr eines Überraschungsangriffs von Ibraheim Omairs Anhängern.
«Sicher sind Sie müde, Raoul», begann Diana und legte eine Hand auf seinen Arm, denn sie brauchte nicht nur seelischen Beistand. Diese freimütige Berührung jagte einen Schauer durch seinen Körper, aber er beherrschte sich und umfaßte ihre kalten Finger.
«Daran darf ich jetzt nicht denken. Vielleicht kann ich mich später ein bißchen ausruhen, wenn Henri die Wache übernimmt. Von der ärztlichen Kunst versteht er fast genausoviel wie ich, der unvergleichliche Henri. Ahmed und ich haben oft über die Vorzüge unserer beiden Diener gestritten.» Als er den Namen des Scheichs erwähnte, spürte er, wie Dianas Hand seinen Arm noch fester umschloß, und er hörte einen halberstickten Seufzer. Eine Zeitlang standen sie schweigend nebeneinander und beobachteten die Araber, bis einer aufstand und zu ihnen kam, um Saint Hubert eine Frage zu stellen.
«Die Leute sind rastlos», erklärte Raoul, nachdem der Mann seinen Gefährten den schwachen Trost übermittelt hatte, den der Vicomte ihm spenden konnte. «Für sie alle ist Ahmed ein Gott, dem sie in treuer Liebe ergeben sind. Nun machen sie sich große Sorgen um ihn. Yusef, sein Stellvertreter, hat sich zum erstenmal in seinem Leben der Religion zugewandt und mit dem frommen Abdul gebetet, weil er denkt, Allah würde ihn eher erhören, wenn er seine inständige Bitte in Gesellschaft eines wahrhaft Gläubigen zum Himmel schickt.»Inzwischen waren Dianas Gedanken zu der Geschichte zurückgekehrt, die Saint Hubert ihr erzählt hatte. «Weiß Lord Glencarryl, daß Sie Ahmed besuchen?»
«Oh, ja. Er hat sich mit meinem Vater angefreundet und besucht uns oft in Paris. Immerhin stellen wir seine einzige Verbindung zu Ahmed dar. Er will alles wissen, was wir über seinen Sohn erfahren, und er klammert sich nach wie vor an die Hoffnung, Ahmed würde seine starre Haltung eines Tages aufgeben. Seit damals ist der Earl nie mehr an ihn herangetreten, weil er erkannt hat, wie sinnlos es wäre. Sollte es jemals zu einer Verständigung kommen, muß sie von Ahmed ausgehen. Hin und wieder hätten sie sich beinahe zufällig getroffen. Und einmal sah Glencarryl ihn in der Oper. Er verbrachte einige Monate in Paris und mietete eine Loge. Direkt gegenüber lag unsere eigene, und ehe die Vorstellung begann, ging ich auf die andere Seite des Hauses, um mit ihm zu reden. Mehrere Freunde leisteten ihm Gesellschaft. Während wir uns unterhielten, betrat Ahmed die Loge meines Vaters und blickte in den Zuschauerraum hinab. Irgend etwas ärgerte ihn, und er runzelte die Stirn. Da war die Ähnlichkeit unverkennbar. Glencarryl sank stöhnend an meine Schulter. ‹Guter Gott, wer ist das?› fragte er. Wahrscheinlich merkte er gar nicht, daß er laut gesprochen hatte. Ein Mann, der neben ihm stand, schaute hinüber und lachte. «Ah, das ist Saint Huberts wilder Freund, der Wüstensohn. Sieht ziemlich verwegen aus, finden Sie nicht. Die Frauen nennen ihn le bel Arabe . Aber man muß ihm lassen, daß er im Abendanzug eine bessere Figur macht, als die meisten Eingeborenen. Angeblich haßt er die Engländer. Also sollten Sie ihm aus dem Weg gehen, Glencarryl, wenn Sie nicht wollen, daß er Ihnen die Kehle durchschneidet - oder welche Methoden solche Kerle sonst haben, um ihren Mitmenschen den Garaus zu machen. Raoul kann Ihnen alles über ihn erzählen. Das war nicht nötig. Glücklicherweise erloschen die Lichter, und die Oper begann. Noch vor ihrem Ende überredete ich den Earl, das Theater zu verlassen.»
Unwillkürlich verspürte Diana Mitleid mit dem einsamen alten Mann, der das Unmögliche erhoffte. Auch er kämpfte vergeblich gegen Ahmed Ben Hassans unbeugsamen Willen. Sie unterdrückte ein Zittern und kehrte mit Saint Hubert ins Zelt zurück. Vor dem Diwan blieben sie stehen und betrachteten den Kranken. Dann hob Diana langsam den Kopf, und Raoul las eine schmerzliche Frage in ihren Augen. «Das weiß ich nicht», sagte er leise, «alle Dinge liegen in Allahs Hand.»
Zehntes Kapitel
Die Nacht wurde heißer, und es war schwül und drückend. In einem dünnen Seidenkimono hatte sich Diana am Rand des breiten Betts ausgestreckt und stützte den Kopf auf mehrere Kissen. Das Licht
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