Der Scheich
Brief, in dem Lord Glencarryl seinen Sohn um ein Gespräch bat, adressiert an Viscount Carryl - so lautete Ahmeds rechtmäßiger Titel -, wurde ungeöffnet an uns zurückgeschickt, mit dem Vermerk: Inconnu . Ahmed Ben Hassan.
Seit damals ist sein Haß gegen die Engländer eine fixe Idee, und er sprach nie wieder ein Wort Englisch. Wenn wir später auf Reisen gingen, brachte er mich oft in Verlegenheit, weil er einen weiten Bogen um alle Engländer machte, ohne seine Abneigung zu verhehlen. Manchmal mußte ich ihm die Kommentare englischer Mitreisender ins Französische oder Arabische übersetzen, falls er sie überhaupt zur Kenntnis nahm, was nur selten geschah. Welch eine unangenehme Farce... Nachdem er über seine wahre Herkunft informiert worden war, hatten wir ihn zwei Jahre lang nicht gesehen. Dann bat uns der alte Scheich um einen Besuch. Da wir nicht wußten, wie Ahmed uns empfangen würde, nahmen wir die Einladung nur zögernd an. Aber er begegnete uns, als wäre nichts geschehen, sprach nicht über die ganze Episode und erwähnte sie nie wieder. Für ihn war der Zwischenfall erledigt. Der Scheich warnte uns, jede Anspielung darauf würde zur Folge haben, daß Ahmed die Beziehung zu uns abbrach. Mein Freund war völlig verändert und hatte die liebenswerten Eigenschaften verloren, die ihm in Paris so viele Freunde gewonnen hatten. Seither ist er der grausame, gnadenlose Mann, den Sie kennen, Diana. Nur ein einziger Mensch stand seinem Herzen nahe - sein Adoptivvater, den er über alles liebte und verehrte. Einige Jahre später durfte auch ich mich wieder der alten Wertschätzung freuen. Und er war immer gut zu Gaston. Von diesen drei Ausnahmen abgesehen, schonte er niemanden. Weiß Gott, ich möchte ihn nicht verurteilen, er ist mein Freund, und ich liebe ihn. Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr erzählen, als Sie bereits wissen.»
Ängstlich sah Saint Hubert Diana ins Gesicht. Aber sie erwiderte seinen Blick nicht, saß reglos da, eine Hand um Ahmeds schlaffe Finger geschlossen, die andere über ihre Augen gelegt.
«Es ist so leicht, jemanden zu verurteilen», fuhr der Vicomte fort, «und so schwierig, die Gefühle anderer Leute zu verstehen. Von Anfang an befand sich Ahmed in einer eigenartigen Lage. Und er besaß stets die Mittel, um sich alle Wünsche zu erfüllen.»
Nun entstand eine lange Pause, und Diana verharrte in ihrem Schweigen.
«Zu jener Zeit verfolgte mich der Fluch Ismaels [Sohn Abrahams und der Hagar, der vom Vater verstoßen wurde und in die Wüste zog], und ich reiste unentwegt um die Welt. Manchmal begleitete mich Ahmed. Wir gingen in zahlreichen Ländern auf Großwildjagd. Ein paarmal besuchte er uns in Paris, doch das Heimweh trieb ihn schon nach wenigen Tagen in die Wüste zurück. Vor fünf Jahren starb der alte Scheich. Sicher hätte der gesunde, kräftige Mann noch lange gelebt, wäre er nicht bei einem Unfall verkrüppelt worden, dessen Folgen ihn einige Monate später das Leben kosteten. Ahmed hatte ihn aufopferungsvoll gepflegt. Tag und Nacht wachte er am Krankenbett. Danach übernahm er das Amt des Scheichs, lebte stets bei seinem Stamm, interessierte sich nur für seine Leute und die Pferde und hielt an den überlieferten Traditionen fest. Da diese Menschen leicht erregbar, leidenschaftlich und eigenwillig wie Kinder sind, hat er niemals gewagt, sie allzulange allein zu lassen - insbesondere, weil die Gefahr namens Ibraheim Omair stets im Hintergrund lauerte. Wenn Ahmed Entspannung suchte, reiste er nur nach Algier oder Oran - niemals in fernere Länder...»
Plötzlich verstummte Saint Hubert. Was für ein taktloser Narr war er gewesen. Natürlich mußte Diana erraten, was Ahmed mit seinen Reisen in diese lebensfrohen Städte bezweckt hatte. Sicher hatten die unbedachten Worte des Vicomtes ihren Kummer noch vertieft, da sie in ihrer Feinfühligkeit gewiß schon beim bloßen Gedanken an solche Widerwärtigkeiten erschauderte. Falls Ahmed starb, würde sie schon verzweifelt genug sein. Also war es überflüssig, daß er sie mit Geschichten über die schlechten Seiten des geliebten Mannes quälte. Ungeduldig sprang Saint Hubert auf und eilte zum offenen Eingang, denn er spürte, daß sie jetzt allein sein wollte. Sie blickte ihm nach, dann sank sie neben dem Diwan auf die Knie.
Gewiß, Raoul war gedankenlos gewesen, aber er hatte ihr nichts Neues erzählt. Schon vor Monaten hatte Ahmed über sein früheres Liebesleben gesprochen, ohne ihre Gefühle zu schonen. Seufzend preßte sie ihre
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