Der Scheich
einer kleinen Lampe fiel auf das Buch in ihren Händen. Aber sie las die aufgeschlagene Seite nicht. Es war Raouls neuestes Werk, das er mitgebracht hatte.
Doch sie konnte sich nicht auf die Lektüre konzentrieren. Und so lag das Buch unbeachtet auf ihren Knien, während ihre Gedanken in die Ferne schweiften. Drei Monate waren verstrichen, seit Saint Hubert die Hoffnung, das Leben des Scheichs zu retten, fast aufgegeben hätte. Jener Nacht folgten bange Tage. Diana war nur mehr ein müder Schatten ihrer selbst, und die schreckliche Zeit hinterließ Spuren in Raouls Seele, die niemals verschwinden würden. Aber dank seiner Kraft und guten körperlichen Verfassung genas Ahmed. Nach den ersten Wochen erholte er sich sehr schnell.
Seit Diana seinen Tod nicht mehr befürchten mußte, war es eine reine Freude, ihn zu betreuen. Entschlossen, nur für den Augenblick zu leben, verbannte sie alle anderen Gedanken, genoß ihr Glück an Ahmeds Seite und das Wissen, daß er sie brauchte. Meistens diente sie ihm schweigend, denn er lag oft stundenlang reglos da, die Augen geschlossen, und sagte kein Wort. Und Diana wußte nicht, warum es ihr jedesmal die Sprache verschlug, wenn sie miteinander allein waren.
Nur ein einziges Mal erwähnte er den Kampf mit seinem Erzfeind Als sie sich eines Tages über ihn beugte, umschloß er ihr Handgelenk und sah ihr forschend in die Augen - zum erstenmal seit der Nacht, in der sie vor seinen Beschimpfungen geflohen war. «Bin ich... rechtzeitig gekommen?» flüsterte er stockend, und sie nickte, die Wangen feuerrot. Da senkte er den Blick und wandte den Kopf ab, ohne ein weiteres Wort, zu schwach, um ein heftiges Zittern zu unterdrücken.
Doch das Glück, ihn pflegen zu dürfen, war ihr nicht lange vergönnt. Sobald seine Kräfte zurückkehrten, richtete er es so ein, daß sie nur selten allein waren. Zweimal täglich forderte er sie auf, mit Saint Hubert oder Henri auszureiten, und zog es vor, allein zu bleiben oder Gaston Gesellschaft zu leisten, der sich ebenfalls von seinen Wunden erholte.
Später empfing er seine untergeordneten Scheichs, die aus verschiedenen Lagern anreisten. Und so vergingen die Tage. Mehr und mehr wurde Diana der Vertrautheit beraubt, die ihr so kostbar gewesen war. Den Großteil ihrer Zeit verbrachte sie mit Saint Hubert. Das gemeinsame Leid hatte sie zusammengeschweißt, und sie fragte sich manchmal, wie ihre Kindheit verlaufen wäre, hätte Raoul sie anstelle ihres Bruders erzogen. Dem Vicomte schenkte sie die schwesterliche Zuneigung, die sie für Aubrey niemals empfunden hatte. Da Raoul sich zu beherrschen wußte, fand er sich mit der Rolle des Bruders ab, die sie ihm unbewußt zuteilte.
Allerdings fiel ihm das zunehmend schwerer, und es gab Tage, an denen er die gemeinsamen Reitausflüge fürchtete. Wenn er glaubte, der Belastung nicht mehr standhalten zu können, deutete er an, er würde gern abreisen. Aber der Scheich bat ihn jedesmal, noch zu bleiben.
Ahmed war bald vollends genesen, und das Lagerleben folgte wieder dem gewohnten Gang. Da die Verstärkung nicht mehr gebraucht wurde, kehrten die Männer in ihre eigenen Camps zurück. Nach Ibraheim Omairs Tod hatte sich sein Stamm zerstreut und weiter südlich angesiedelt. Keiner der Anführer war stark genug, um die Position des Scheichs zu übernehmen, denn Ibraheim hatte keinem seiner Anhänger die Macht und den Reichtum eines potentiellen Rivalen zugestanden. Nun war der Stamm in verschiedene kleine Gruppen zerfallen. Ahmed Ben Hassan hatte sein Versprechen, das er dem Adoptivvater auf dem Totenbett gegeben hatte, gehalten und die Wüste nach vielen Jahren endlich von einer Bedrohung befreit.
Inzwischen verstand er sich mit dem Vicomte wieder so gut wie vor dem Abend, an dem Raouls sanfte Kritik die Wut und Eifersucht des Scheichs erregt hatte. Die Erinnerung an jene gräßliche Woche vor Dianas Entführung war von den folgenden Ereignissen ausgelöscht worden. Nie wieder sollte ein Schatten auf die Freundschaft fallen, nachdem Saint Hubert freiwillig beiseite getreten war und seine eigenen Gefühle dem Glück Ahmeds geopfert hatte.
Mit der Genesung des Scheichs kehrte auch die kühle Haltung zurück, unter der Diana unsäglich litt. Er behandelte sie höflich und gleichgültig. So oft wie möglich ging er ihr aus dem Weg, und die ständige Gegenwart des Vicomtes verhinderte zusätzlich die Annäherung. Unauffällig, aber wirksam sorgte Ahmed dafür, daß Raoul ihn niemals mit ihr allein ließ. Er bezog sie
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