Der Scheich
Wange an die Hand, die sie immer noch festhielt. Sie warf ihm nichts vor, konnte ihn nur lieben, ganz gleich, wie er sich verhalten hatte. Trotz all seiner Fehler und Schwächen liebte sie ihn. Jene Laster gehörten ebenso zu ihm wie seine attraktive äußere Erscheinung und die Stimmungsschwankungen, die so schwer zu ertragen waren. Anders kannte sie ihn gar nicht. Er stand außerhalb der Konventionen, die für gewöhnliche Männer galten. Deshalb durfte man keine normalen Maßstäbe an ihn legen. Dieser wilde Wüstensohn gehorchte nur seinem eigenen Gesetz und der Tradition und lehnte die Regeln der europäischen Gesellschaft ab. Von seinem leiblichen Vater hatte er ein stolzes, leidenschaftliches Temperament geerbt. Und der Adoptivvater hatte ihn zu einem herrischen Führer erzogen. Wenn man dazu das freie Wüstenleben und die Bewunderung seiner Anhänger in Betracht zog, wunderte es nicht weiter, daß Vorschriften und Verbote ihn nicht kümmerten. Deshalb konnte Diana ihn auch nicht als Engländer sehen. Die zufällige Tatsache seiner Herkunft spielte dabei keine Rolle. Für alle Zeiten würde er ein eingefleischter Araber bleiben.
Wenn er überlebte! Er mußte weiterleben! Oder sollte ein kraftvoller, mutiger Mann zugrunde gehen, niedergestreckt von einem Feigling, der ihn mit einer Übermacht hinterrücks überfallen und nicht gewagt hatte, ihm ins Gesicht zu sehen? Er durfte nicht sterben, selbst wenn er Dianas ganze Hoffnung auf Glück zunichte machen sollte. Sein Leben war ihr wichtiger als das eigene, und sie hätte alles für ihn geopfert. Wenn er nur genas, würde sie es sogar ertragen, daß er sie verstieß. Er war so jung, so stark. Und es gab so vieles, was sein Leben lebenswert machte. Sein Stamm brauchte ihn. Warum konnte sie nicht an seiner Stelle sterben? In früheren Zeiten waren die Götter gnädiger gewesen, hatten die Gebete glückloser Liebender erhört und ihnen gestattet, ihr Leben für das des anderen hinzugeben. Würde der Allmächtige doch auch ihre Bitte erfüllen und sie zu sich holen - nicht Ahmed... Wenn! Wenn!
Vorsichtig strich sie über seine Brust, voller Angst, die zarte Berührung könnte seinem geschundenen Körper Schmerzen bereiten. Dann musterte sie lange und eindringlich sein Gesicht. Das schwarze Haar war unter Bandagen verborgen, die sich grellweiß von der gebräunten Haut abhoben. Die langen dichten Wimpern verhüllten die Glut seines Blicks. Der Schlaf entspannte die kantigen Züge und ließ ihn jünger erscheinen. In vielen Nächten hatte sie ihn beobachtet und überlegt, wie er wohl als Junge gewesen sein mochte, ehe er sich zu dem unbarmherzigen Mann, ihrem Entführer, entwickelt hatte.
Jetzt, da sie die Geschichte seiner Jugend kannte, fand sie ihn liebenswerter denn je. Was für ein Mann er wohl geworden wäre, hätte die zierliche dunkeläugige Mutter weitergelebt, um ihn mit ihrer Sanftmut zu beeinflussen? Diese arme, hilflose, zerbrechliche Frau - und doch stark genug, um den Sohn vor einer drohenden Gefahr zu retten... Für diesen Mut hatte sie mit ihrem Leben bezahlt, in der beruhigenden Gewißheit, daß ihr Kind gerettet war.
Diana dachte an ihre eigene Mutter, die in den Armen eines liebevollen Ehemanns gestorben war - und dann wieder an die Spanierin, eine Fremde in einem fremden Land. Dort hatte sich ihr Herz nach dem immer noch geliebten Gatten gesehnt. Erst im Todeskampf suchte sie Trost an der Brust des Mannes, der sie so lange vergeblich umworben hatte.
Plötzlich wurde Diana von heißer Eifersucht auf die beiden toten Frauen gequält. Sie waren innig geliebt worden. Warum blieb ihr diese Freude versagt? Was hatte sie verbrochen, um diesen Kummer zu verdienen? Warum konnte Ahmed sie nicht lieben? Andere Männer hatten sie angeschwärmt, aber der einzige, der ihr etwas bedeutete, erwiderte ihre Gefühle nicht. Würde sie je wieder in seinen Armen liegen und seine Leidenschaft spüren? Darum betete sie in wachsender Verzweiflung. Schluchzend rang sie nach Atem. «Ahmed, mon bel Arabe », flüsterte sie inbrünstig.
Nach einer Weile stand sie auf, denn sie fürchtete, zusammenzubrechen und der Angst und Sorge nachzugeben, die sie peinigten. Ohne nachzudenken, suchte sie Hilfe und Trost bei dem Menschen, der ihr beides so großmütig bot. Sie folgte dem Vicomte vor das Zelt. In der Nacht wurde der Platz vor der Markise normalerweise von allen Stammesmitgliedern gemieden. Sogar die Wächter pflegten sich in einiger Entfernung aufzuhalten. Aber jetzt standen
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