Der Scheich
Sie wollte ihn nicht ansehen, konnte seinem Blick nicht begegnen. Allein schon seine Gegenwart war eine Beleidigung. Wenn ich doch sterben würde, wünschte sie, von tiefer Scham erfüllt. Ihr Widerwille gegen diesen Mann war übermächtig. Hastig biß sie sich auf die Unterlippe, um ihr Zittern zu unterdrücken. Die rotgoldenen Locken klebten schweißnaß an ihrer Stirn. Aber obwohl ihr Herz wie rasend schlug, stand sie stolz und aufrecht da.
Mit langen, lautlosen Schritten durchquerte er das Zelt. «Hoffentlich hat Gaston gut für dich gesorgt und deine Bedürfnisse restlos befriedigt», meinte er leichthin, wanderte zu einem kleinen Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Seine Gelassenheit wirkte wie ein kalter Guß. Auf alles war sie vorbereitet gewesen, nur nicht auf diese kühle Nonchalance in einer so unerträglichen Situation. Sein Tonfall drückte das flüchtige Bedauern eines Gastgebers aus, der sich für seine unvermeidbare Abwesenheit entschuldigte.
Nun gewann der Zorn Oberhand über Dianas Angst. «Wäre es nicht an der Zeit, diese Farce zu beenden?» fauchte sie mit geballten Fäusten. «Haben Sie noch nicht genug angerichtet? Warum mußten Sie mir diese ungeheuren Qualen zumuten?»
Eine dünne Rauchwolke wehte herüber, so als wäre die Zigarette von einer jener temperamentvollen Gesten bewegt worden, die Diana vor dem Zelt beobachtet hatte. Aber sie bekam keine Antwort. Sein Schweigen schürte ihre Wut, und sie ließ alle Vorsicht fahren.
«Glauben Sie wirklich, Sie könnten mich hier festhalten, Sie Narr? Bilden Sie sich ein, niemand würde mein Verschwinden bemerken - niemand würde Nachforschungen anstellen?»
«Man wird sich nicht nach Ihnen erkundigen», entgegnete er ungerührt.
Erbost bohrte sie ihren Stiefelabsatz in den weichen Teppich.
«Oh, doch!» stieß sie mit erstickter Stimme hervor. «So unwichtig bin ich nicht. Die englischen Behörden werden die französische Regierung ersuchen, meinen Entführer aufzuspüren. Und dann werden Sie teuer für Ihr Verbrechen bezahlen.»
Nicht zum erstenmal jagte ihr sein leises Gelächter einen kalten Schauer über den Rücken. «Über mich hat die französische Regierung keine richterliche Gewalt. Ich bin nicht ihr Untertan, sondern mein eigener Herr - ein unabhängiger Scheich. Also darf sich keine Regierung in meine Angelegenheiten einmischen. Mein Stamm gehorcht nur mir allein.»
Mit bebenden Fingern tastete sie nach ihrem Taschentuch und wischte sich die feuchten Hände ab. «Wenn man mich vermißt ...» begann sie verzweifelt und versuchte eine tapfere Miene aufzusetzen. Aber ihr Selbstvertrauen war längst dahin.
«Es wird wohl eine Weile dauern, bis man dich vermißt», entgegnete er trocken, «und dann ist es zu spät.»
«Zu spät!» hauchte Diana. «Was meinen Sie?»
«Vorerst werden deine eigenen Pläne alle Nachforschungen verhindern.»
Er machte eine Pause, und sie hörte, wie er noch ein Streichholz entzündete. Dieses banale kleine Zwischenspiel zerrte an ihren angespannten Nerven. Gequält preßte sie die Hände an den Kopf, um den pochenden Schmerz in ihren Schläfen zu lindern.
«Du hast in Biskra eine Karawane unter Mustafa Alis Leitung engagiert und eine Expedition in die Wüste angetreten, die einen Monat dauern sollte», fuhr er ungerührt fort. «Danach wolltest du nordwärts nach Oran reiten, die Eskorte entlassen und von dort aus nach Marseille und schließlich nach Cherbourg reisen, um dich nach Amerika einzuschiffen, wo dein Bruder dich erwartet.»
Atemlos und mit ängstlichem Blick lauschte sie seinen Worten. Diese beiläufige, detaillierte Erörterung ihrer Reisepläne, die lückenlose Informationen verriet, erfüllte sie mit kaltem Entsetzen. Am liebsten hätte sie geschrien. Ihr schwindelte, als sie durch den Zelteingang in die endlose Wüste und den goldgestreiften Himmel hinausstarrte. Aber sie nahm weder den wellenförmigen Sand noch die rote Pracht der sinkenden Sonne wahr. «Wieso - wissen Sie das alles?» stammelte sie.
«Weil ich es wissen wollte, und es fiel mir nicht schwer, Erkundigungen einzuziehen», lautete die gleichmütige Antwort. Eine neue Rauchwolke schwebte zu Diana hinüber.
Plötzlich flammte ihr Zorn wieder auf. «Halten Sie mich fest, um Lösegeld zu erpressen ...?» Aber ihre verächtliche Stimme erstarb sofort, und sie brauchte sein Schweigen nicht, um zu wissen, wie lächerlich ihre Frage klang. Die hatte sie nur gestellt, um die schreckliche Vermutung zu unterdrücken, die ihr allmählich
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