Der Scheich
sie neugierig vor dem kleinen Bücherregal nieder. Was las ein frankophiler Araber? Wahrscheinlich Romane, das würde zu diesem prunkvollen Interieur passen. Aber es handelte sich fast ausschließlich um Bücher über Sport und Reisen und mehrere veterinärmedizinische Bände, alle in französischer Sprache und offensichtlich häufig benutzt. In manchen waren auf arabisch mit Bleistift Anmerkungen an den Rand geschrieben. Die Werke eines gewissen Vicomte Raoul de Saint Hubert nahmen ein ganzes Fach ein. Mit Ausnahme eines Romans, den Diana nur flüchtig durchblätterte, waren es Reisebücher. Wie sie den Widmungen auf den Vorsatzblättern entnahm, hatte der Autor die Bücher persönlich an den Araber geschickt. Eine Inschrift lautete sogar: Meinem Freund Ahmed Ben Hassan, dem Wüstenscheich.
Verwirrt stellte sie die Bücher ins Regal zurück und wünschte aus unerklärlichen Gründen, sie hätten ihrer Erwartung entsprochen. Dieser Beweis für die Bildung und den guten Geschmack des Besitzers beunruhigte sie. Denn der unvermutete Einblick in die Persönlichkeit ihres Entführers verriet Wesenszüge, die man wohl kaum in einem primitiven Eingeborenen fand - oder hinter jener nur nach außen hin zivilisierten Fassade, wie sie von manchen Arabern zur Schau getragen wurde. Jetzt erschien ihr der Scheich noch unheimlicher, noch gefährlicher. In plötzlicher Angst schaute sie auf ihre Uhr. Der Tag neigte sich rasch dem Ende zu. Bald würde ihr Peiniger zurückkehren. Ihr Atem beschleunigte sich, Tränen brannten in ihren Augen.
«Nein!» flüsterte sie verzweifelt. «Wenn ich wieder weine, werde ich wahnsinnig.» Krampfhaft schluckte sie die Tränen hinunter und sank auf den großen schwarzen Diwan, den sie eben noch verschmäht hatte. Sie war so müde, und die Kopfschmerzen ließen nicht nach.
Als der Diener den Tee servierte, schlief sie. Aber sie hörte, wie er das Tablett auf einen Stuhl stellte, und fuhr hoch.
«Das ist Madames Tee», erklärte er. «Wenn Sie so freundlich wären, mir mitzuteilen, ob ich ihn nach Ihrem Geschmack zubereitet habe ...» fügte er besorgt hinzu. Von dieser winzigen Kanne, die er etwas skeptisch betrachtete, schien sein ganzes Glück abzuhängen.
Seine Gewissenhaftigkeit strapazierte Dianas Nerven. Sicher, er meinte es gut mit ihr und wollte sie zufriedenstellen. Doch in diesem Augenblick fühlte sie sich durch sein Verhalten nur gedemütigt. Verschwinden Sie! hätte sie am liebsten geschrien wie ein wütender Schuljunge. Allerdings gelang es ihr, ihm die gewünschte Antwort zu geben. Nachdem er Zigaretten und Streichhölzer bereitgelegt hatte, lächelte er voller Genugtuung und entfernte sich.
Während der Abend näher rückte, wuchs Dianas Sehnsucht nach frischer Luft. Außerdem wollte sie endlich feststellen, in welcher Umgebung das Zelt stand. Und so eilte sie zum offenen Eingang, über den sich, von Lanzen gestützt, eine breite Markise spannte. Verwundert trat sie aus dem Schatten und sah sich um. Diese Oase war viel größer als alle, die sie bisher gesehen hatte. Vor dem Zelt erstreckte sich eine von Palmen gesäumte Lichtung. Das restliche Camp lag hinter dem Zelt des Scheichs. Dort tummelten sich mehrere Männer und Pferde.
In der Ferne entdeckte sie ein paar Kamele. Doch sie interessierte sich nur für die Pferde. Einige waren festgebunden, andere liefen frei umher, oder sie wurden von Burschen trainiert. Am Rand der Oase tauchte hin und wieder ein Reiter auf. Die Araber waren mit ihrem Tagwerk beschäftigt. Wenn sie an ihr vorbeikamen, verneigten sie sich, beachteten sie aber nicht weiter.
In Dianas Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Das war also die Wüste, wie sie sie nie zu sehen erwartet hatte und wie nur wenige Europäer sie kennenlernen durften. Aber um welchen Preis! Sie erschauerte. Dann wandte sie sich in die Richtung, aus der plötzlich ein Getöse herandrang. Ein wiehernder fuchsroter Hengst stürmte auf das Zelt zu. Schreiend klammerten sich zwei Männer an den Hals des Tieres, das Diana sofort wiedererkannte. Obwohl sie den kleinen Kopf nur ein paar Sekunden lang neben sich gesehen hatte, würde sie diesen Anblick niemals vergessen. Dicht vor ihr blieb das Pferd stehen und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Die Ohren eng angelegt, zitterte es am ganzen Körper und schnappte immer wieder nach den Reitknechten, die es offenbar nicht bändigen konnten. Von einem Hufschlag getroffen, fiel ein Mann zu Boden und wälzte sich hastig aus der
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