Der Scherbensammler
fünfzig Euro, die er ihr hinhielt, und stieg aus. Es gab vier Zapfsäulen, die beidseitig bedient werden konnten, und es herrschte reger Betrieb. Merle führte den Tankstutzen ein und überlegte, ob es möglich war, Hilfe zu holen, ohne dabei Jette und Mina zu gefährden.
Die meisten Kunden waren so beschäftigt, dass sie keinen Blick für irgendetwas anderes übrig hatten. Nur ein junger Mann, der die Scheiben seines Jeeps sauber machte, verschlang Merle mit seinen Blicken.
Ob sie ihn …
Sie wagte es nicht. Ben beobachtete sie. Und er hatte das Messer. Selbst wenn Jette ihn mit einem Überraschungsangriff von hinten überwältigen könnte (wozu sie nicht die Kraft hatte), wäre da immer noch Mina, von der sie nicht mehr wussten, auf wessen Seite sie stand.
Nein. Ben war unberechenbar. Und Mina leider auch.
Merle schraubte den Tankdeckel zu und machte sich auf den Weg zur Kasse.
»Hi.«
Der Jeepfahrer grinste sie fröhlich an. Er sah nett aus und unter normalen Umständen wäre Merle nicht abgeneigt gewesen, sich auf einen kleinen Flirt einzulassen. So jedoch fertigte sie ihn mit einem halbherzigen Lächeln ab.
Sie legte den Geldschein auf die Theke und musterte den Kassierer, der ihr freundlich und geübt das Wechselgeld herausgab, dann die Frau, die für die Kaffeebar zuständig war.
Ein paar Worte nur …
Aber würden die beiden ihr glauben? Würden sie den Ernst der Lage überhaupt verstehen? Es war ja keine Zeit für lange Erklärungen.
Die Tür schwang auf. Ein kalter Luftschwall wehte herein.
»Hallo, Schatz«, sagte Ben. »Wo bleibst du denn?«
Er legte Merle den Arm um die Schultern und führte sie hinaus. Ihr war elend zumute, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Bert presste den Daumen zum dritten Mal auf den schwarzen Klingelknopf links oben und wusste doch, dass niemand öffnen würde. Er drehte sich zu Tilo Baumgart um.
»Sie haben nicht zufällig einen Dietrich zur Hand?«
»Wie bitte?«
»War nur ein Scherz.«
Bert drückte auf den Klingelknopf links unten. Diesmal ertönte das Summen sofort. Bert stieß die Tür auf und Tilo folgte ihm in das dämmrige Treppenhaus. Eine sorgfältig geschminkte ältere Dame, ausgehfertig gekleidet und mit einem fedrigen Hut auf dem Kopf, erwartete sie auf dem ersten Treppenabsatz.
»Bitte?«
»Wir wollen zu Jette Weingärtner und ihrer Freundin«, sagte Bert. »Aber sie machen nicht auf.«
»Die Mädchen aus der WG oben?« Die Frau beäugte Bert und Tilo mit wachsendem Misstrauen. »Wenn sie nicht aufmachen, werden sie ihre Gründe haben. Oder sie sind nicht da.«
»Wir würden gern kurz nachschauen und …«
»Hören Sie«, unterbrach ihn die Frau resolut. »Es wäre mir lieber, wenn Sie ein andermal wieder kommen könnten. Ich lasse nicht gern Fremde ins Haus.«
»Das ist sehr vernünftig, aber in unserem Fall dürfen Sie getrost eine Ausnahme machen.« Bert zauberte seinen Ausweis hervor. »Kriminalpolizei. Wir haben nur ein paar Fragen an die jungen Damen.«
Ihre Skepsis bröckelte. Ein unsicheres Lächeln wagte sich auf ihre Lippen. Sie nickte und zog sich in ihre Wohnung zurück.
Sie hat gar nicht richtig hingeguckt, dachte Bert. Aber so waren die Menschen. Man hielt ihnen einen abgestempelten Wisch unter die Nase und schon nahmen sie Haltung an.
Oben klingelte Bert noch einmal. Dann begutachtete er die Tür.
Kein Sicherheitsschloss. Ein ziemlich vorsintflutliches Modell.
Er nestelte seine Scheckkarte aus der Brieftasche, schob sie zwischen Tür und Rahmen und führte sie langsam nach unten. Ein Klacken, und die Tür war auf. Befriedigt steckte Bert Karte und Brieftasche wieder weg.
»Das vergessen Sie am besten ganz schnell.«
Als er keine Antwort erhielt, wandte er den Kopf.
»Nun sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich weiß, dass die Wahl meiner Mittel manchmal zweifelhaft ist, aber die Mädchen haben sich schon mehrmals in ernste Gefahr gebracht. Ich werde kein Risiko eingehen und wertvolle Zeit vergeuden, indem ich mich an die Vorschriften halte.«
»Habe ich was gesagt?« Über Berts Schulter hinweg spähte Tilo Baumgart durch den Türspalt. »Ich hätte Ihnen sogar meine eigene Scheckkarte für das Kunststück ausgeliehen, denn irgend etwas stimmt hier nicht.«
Bert bedeutete ihm, an der Tür zu warten. Langsam durchquerte er den Flur und warf einen Blick in jeden Raum. In dem einen Zimmer standen die Schranktüren sperrangelweit offen, in dem andern die Schubladen. Als
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